# taz.de -- Prager Frühling vor 50 Jahren: Wunden, die nicht verheilen wollen
       
       > Viele jungen Tschechen wissen nicht, was sich hinter dem „Prager
       > Frühling“ verbirgt. An der Staatsspitze tummeln sich indes Mitläufer von
       > damals.
       
 (IMG) Bild: Protest gegen sowjetische Panzer in der Prager Innenstadt 1968
       
       Prag taz | Nein, der Prager Frühling war kein brutal unterdrückter
       Volksaufstand, keine antikommunistische Revolte. Der Prager Frühling, das
       war das Tauwetter, das zwischen dem Ende des Stalinismus und der
       Breschnew-Doktrin lag. Damals glaubten Tschechen und Slowaken, einen
       eigenen Weg zum Sozialismus gehen zu dürfen.
       
       Die Tschechoslowakei war durchaus ein „westliches“ Land, als es 1945 durch
       die zweite europäische Nachkriegsordnung nach Osten verschoben wurde: Es
       war ein gebeutelter, aber durchaus moderner, hochindustrialisierter und
       innovativer Staat, der auf demokratischen und wirtschaftlich liberalen
       Grundpfeilern stand und der im Zweiten Weltkrieg auf der Seite der
       Alliierten gegen Hitler-Deutschland gekämpft hatte.
       
       Schon nach dem zweiten Jahresplan 1962 war klar, dass der dritte kläglich
       scheitern würde und die zentralisierte Planwirtschaft das Problem war. Wäre
       es nur bei den wirtschaftlichen Reformen des Ökonomen Ota Šik geblieben,
       hätte der Frühling vor 50 Jahren möglicherweise nicht so abrupt geendet.
       
       Doch der Prager Frühling war mehr als der Versuch eines wirtschaftlich
       hochentwickelten Landes, sich innerhalb der ihm gesetzten Grenzen zu
       emanzipieren. Waren Šiks Wirtschaftsreformen der frühen sechziger Jahre
       eine notwendige Reaktion auf die wirtschaftlichen und
       gesellschaftspolitischen Rückschritte, die sein Land seit 1945 erfahren
       musste, wurden sie schnell zur ersten lauen Frühlingsluft, die vielen das
       zu sein versprach, was sie seit Jahrzehnten der erst braunen dann roten
       Diktatur herbeisehnten: Freiheit. „Wir versuchten, die Freiheit auszudehnen
       und manchmal ist die Befreiung ein langer Prozess“, erklärte Eduard
       Goldstücker, als er und die Autorin vor 20 Jahren in seiner kleinen Wohnung
       im Prager Stadtteil Barrandov über den Prager Frühling sprachen.
       
       Goldstücker gilt neben Ota Šik als einer der weiteren Frühlingsboten von
       damals. Die Kafka-Konferenz, die der Germanist im Jahre 1963 auf Schloss
       Liblice in der Nähe von Prag organisierte, zählt bis heute zu den
       Initialzündungen für den Demokratisierungsprozess – oder als „Anfang der
       Konterrevolution“, wie die regimetreue Presse hetzte. „Einzigartig“ in der
       Geschichte des Kommunismus sei der Prager Frühling gewesen, davon war
       Goldstücker bis zu seinem Tod im Oktober 2000 überzeugt, denn, „hier haben
       sich Mitglieder der herrschenden Partei das Programm der Demokratisierung
       zu eigen gemacht“.
       
       Einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ versprach Alexander Dubček,
       dessen Wahl zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei den Prager
       Frühling im Januar 1968 richtig zum Erblühen brachte. Dubček war ein
       Hoffnungsträger, der sich der Aufgabe verschrieben hatte, die Freiheiten,
       die sich die Tschechen und Slowaken seit der Entstalinisierung peu à peu
       genommen hatten, zu institutionalisieren. Die staatliche Zensurbehörde, die
       im März 1968 im Rahmen von Dubčeks Reformen abgeschafft wurde, hatte zu
       diesem Zeitpunkt nur noch auf dem Papier bestanden. An die Zensurvorgaben
       hatten sich die Redakteure und Autoren der staatlichen Medien schon länger
       nicht mehr gehalten und alternative Zeitungen bestimmten den
       gesellschaftlichen Diskurs.
       
       Vor allem die Kultur der sechziger Jahre reflektierte die Hoffnung der
       tschechoslowakischen Gesellschaft. Literaten wie Milan Kundera und Bohumil
       Hrabal begannen, in ihren Werken mit Mythen der sowjetischen Befreiung
       aufzuräumen oder die Zeit des Stalinismus in der Tschechoslowakei mit
       seinen antisemitischen Schauprozessen und Straflagern kritisch zu
       reflektieren. Miloš Forman war ein junger, unbekannter Regisseur, als er
       1967 in seinem „Feuerwehrball“ die Kleinstadtmentalität mit ihrem
       Mitläufertum karikierte, die unter jeder Form von Totalitarismus gedeiht
       und die ihn in einer Art perversen Symbiose erhält.
       
       Die Panzer, die vor einem halben Jahrhundert das Land überrollten,
       zerstörten nicht nur die Blüten des Prager Frühlings. Sie walzten die
       Hoffnung einer ganzen Generation nieder. Die Gräben, die sie aufgerissen
       haben, sind gesellschaftliche Wunden, die bis heute nicht geheilt sind. Sie
       brachten den Tschechen und Slowaken die bittere Erkenntnis, dass wiederum –
       wie schon 1938 in München – ohne sie über ihr Schicksal entschieden wurde.
       Sie wollten einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz – und bekamen die
       hässliche Fratze des Bolschewismus.
       
       ## Märchenfilme und innere Emigration
       
       Die Niederschlagung des Prager Frühlings brachte den Herbst der
       „Normalisierung“, eine Zeit des grauen Realsozialismus, in der jeder seines
       Nächsten Feind wurde. Die fröhlich, poppigen Melodien der sechziger Jahre
       wichen schweren, melancholischen Balladen. Die bissigen
       Gesellschaftssatiren wurden von träumerischen Märchenfilmen ersetzt, statt
       hitziger Diskussionen widmete man sich lieber der inneren Emigration.
       
       Wer das nicht aushielt, ging. Nach dem Einmarsch und in den siebziger und
       achtziger Jahren emigrierten geschätzt 250.000 Tschechen und Slowaken in
       den Westen. „Die Säuberungen und die systematische Vertreibung der Eliten
       haben zu einer schrecklichen Provinzialisierung des Landes geführt“,
       beklagte der Schriftsteller und Zeitzeuge Jiří Gruša (1938–2011) die
       Auswirkungen von Einmarsch und Besatzung. „Geprägt von Ängstlichkeit,
       mangelndem Selbstbewusstsein und Argwohn gegenüber allem Fremden“, fand
       Gruša sein Land vor, als er, nachdem er 1981 ausgebürgert worden war,
       Anfang der neunziger Jahre wieder zurückkehrte.
       
       Mit der Aufarbeitung der „Ereignisse von 1968“, wie der Einmarsch gerne
       euphemistisch genannt wird, tun sich die Tschechen bis zum heutigen Tag
       schwer. Während nicht einmal 50 Prozent der Tschechinnen und Tschechen
       zwischen 15 und 24 Jahren, wissen, was sich hinter dem Begriff „Prager
       Frühling“ überhaupt verbirgt, zeigt ein Blick auf die gewählte politische
       Elite vor allem eines: Das Mitläufertum von damals hat sich gelohnt.
       
       ## Andrej Babiš: vom Stasi-Spitzel zum Ministerpräsidenten
       
       Der amtierende Ministerpräsident Andrej Babiš hat in den achtziger Jahren
       als IM Bureš seine Kollegen im Auftrag der tschechoslowakischen
       Staatssicherheit bespitzelt. Dennoch gilt er am 50. Jahrestag des
       Einmarsches als beliebtester Politiker des Landes.
       
       Dass ihr Regierungschef unter Verdacht steht, sich umgerechnet knapp zwei
       Millionen Euro an EU-Fördergeldern erschlichen zu haben, quittieren viele
       Tschechen mit einem vielsagendem Grinsen: „Wer nicht den Staat beklaut,
       beklaut die eigene Familie“, lautete das Motto der Jahre der Normalisierung
       zwischen Prager Frühling und der Samtenen Revolution.
       
       Die ist inzwischen gescheitert: Babiš’ Verteidigungsminister Lubomír Metnar
       ist stolz darauf, einst bei den tschechoslowakischen Grenztruppen im Kalten
       Krieg an vorderster Front gedient zu haben. Dass beide überhaupt an der
       Macht sind, verdanken sie neben knapp 30 Prozent der Wähler auch der
       Kommunistischen Partei Böhmens und Mährens, die sich bis heute stolz auf
       das Erbe derer beruft, die die Sowjetpanzer 1968 zur „brüderlichen Hilfe“
       gerufen haben und die heute die Regierung ihres einstigen Genossen Babiš
       brav toleriert.
       
       Besonders ohrenbetäubend wirkt daher auch das Schweigen von Staatspräsident
       Miloš Zeman, der im vergangenen Januar in seinem Amt bestätigt wurde und
       sich nicht zum 50. Jahrestags des Einmarsches der Warschauer Pakt-Truppen
       äußern will. Dafür hat Zeman jedoch auf andere Art ein besonders
       symbolträchtiges Zeichen gesetzt: Wenn russische Soldaten im kommenden Jahr
       singend und tanzend als Alexandrow-Ensemble die Eventkultur der
       Tschechischen Republik bereichern, dürfen sie sich der Schirmherrschaft
       Zemans sicher sein.
       
       20 Aug 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Alexandra Mostyn
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt 1968
 (DIR) Prager Frühling
 (DIR) Andrej Babis
 (DIR) Literatur
 (DIR) Tschechien
 (DIR) Schlager
 (DIR) Prag
 (DIR) Reiseland Tschechien
 (DIR) Schwerpunkt 1968
 (DIR) Schwerpunkt 1968
 (DIR) Schwerpunkt 1968
 (DIR) Prager Frühling
 (DIR) Andrej Babis
 (DIR) Fotografie
 (DIR) Schwerpunkt 1968
 (DIR) Schwerpunkt 1968
 (DIR) Schwerpunkt 1968
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Nachruf auf Milan Kundera: Mit geistiger Freiheit
       
       Sein Roman „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ verhalf der
       tschechischen Literatur zu Weltruhm. Nun ist Milan Kundera in Paris
       gestorben.
       
 (DIR) Zum Tod von Petr Uhl: Elder Statesman des linken Untergrunds
       
       Der tschechische Ex-Dissident gehörte zu den bedeutendsten Persönlichkeiten
       des Widerstands gegen die Herrschaft der Kommunisten.
       
 (DIR) Tschechischer Sänger wurde 80: Gott ist tot
       
       Karel Gott war mehr als der Mann mit der „Biene Maja“, mehr als eine
       Schlagerschluse. Der Kitschier und Könner ist am Dienstagabend gestorben.
       
 (DIR) Prags neuer Oberbürgermeister: Pirat und Politneuling
       
       Zdeněk Hřib ist seit kurzem Mitglied der Piratenpartei und nun schon Prags
       neuer Oberbürgermeister. Er will die Korruption in seiner Stadt bekämpfen.
       
 (DIR) Die Anfänge der Tschechoslowakei: Der Kleine mit den blauen Augen
       
       1918 wurde die Tschechoslowakische Republik gegründet. Die Gegend zwischen
       Hodonín und den Weißen Karpaten gilt als ihre Keimzelle.
       
 (DIR) Prager Frühling und Kuba: Castros Machtmanöver
       
       Kubas Revolutionsführer Fidel Castro hielt im August 1968 eine
       bemerkenswerte Rede zum Einmarsch in Prag. Sie spaltete die Linke – auch in
       Kuba.
       
 (DIR) Prager-Frühling-Protest in der Lausitz: „Und die Hände schön unters Gesäß“
       
       Hans-Joachim Schiemenz und Volker Rennert protestierten 1968 in Lübbenau
       gegen den Einmarsch in Prag. Dafür gingen sie ins Gefängnis.
       
 (DIR) Prager Frühling und Rumänien: Das „feindliche Bruderland“
       
       Der rumänische Parteiführer Nicolae Ceauşescu verurteilte den Einmarsch der
       Truppen in Prag öffentlich. Seine Rede war Stoff für viele Legenden.
       
 (DIR) Prager Frühling und Westeuropas Linke: Nicht die Sowjetunion war der Feind
       
       Bloß nicht dem kapitalistischen Westen einen Triumph gönnen: Westeuropas
       Linke wollten lieber die stalinistischen Strukturen bewahrt sehen.
       
 (DIR) Gedenken an Prager Frühling: Schimpf und Schande für Babiš
       
       Am 50. Jahrestag des Prager Frühlings machen viele Tschechen ihrem Unmut
       über den Regierungschef Luft. Denn der war ein Stasi-Spitzel.
       
 (DIR) Neuer Bildband zur 1968-er Bewegung: Statisten im Scheinwerferlicht
       
       Michael Ruetz wurde bekannt als Chronist einer Ära. In seinem Fotoband
       „Gegenwind. Facing the Sixties“ nimmt er die Nebendarsteller in den Blick.
       
 (DIR) Die DDR-Jugend und der Prager Frühling: Ein herrliches Lotterleben
       
       Vor 50 Jahren endete der Prager Frühling. In der DDR protestierten
       Jugendliche. Die MusikerInnen Bettina Wegner und Toni Krahl erinnern sich.
       
 (DIR) Prager Frühling vor 50 Jahren: Die Lektion kam mit Verspätung an
       
       Die Militärintervention in Prag versetzte Wolfgang Templin zunächst in
       Schockstarre – bereitete dann aber seinen Weg in die DDR-Opposition.
       
 (DIR) Ex-Sowjet-Dissident über Prager Frühling: „1968 fühlte ich mich als Liberaler“
       
       Der damalige Dissident Pawel Litwinow demonstrierte in Moskau gegen den
       Einmarsch des Warschauer Paktes in Prag. Ein Interview über 1968 und
       Russland heute.