# taz.de -- Grünen-Parteichefin Annalena Baerbock: Zuhören und zuspitzen
       
       > Als Annalena Baerbock zur Chefin gewählt wurde, wurde sie skeptisch
       > beäugt. Mittlerweile hat sie sich selbst bei linken Grünen Achtung
       > verschafft.
       
 (IMG) Bild: Ausgerechnet die Realo-Chefin Annalena Baerbock (rechts im Bild) rückt die Grünen wieder nach links
       
       Nö. Annalena Baerbock kneift skeptisch die Augen zusammen. Sie hat keine
       Lust, sich vor der Fernsehkamera in die pralle Sonne zu stellen.
       Bullenhitze, blendet, sieht blöd aus. Der Kameramann, der schon das Stativ
       aufgebaut hat, versucht sie zu überreden, sieht aber nach zwei Sekunden
       ein, dass er keine Chance hat. Das Interview mit RTL in Speyer findet dann
       50 Meter weiter unter Bäumen statt.
       
       Annalena Baerbock, 37 Jahre, die nicht mehr ganz neue Grünen-Vorsitzende,
       weiß inzwischen sehr genau, was sie will – und was nicht. Als Baerbock
       sich im vergangenen Dezember um ihr Amt bewarb, gab es viele Bedenken. Für
       die allermeisten kam die junge Abgeordnete aus Brandenburg aus dem Off.
       Annalena – wer?
       
       Würde sie die Rolle der Chefin füllen? Wäre sie zu all den Themen
       sprechfähig, die täglich auf eine Parteivorsitzende einprasseln? Würde sie
       untergehen neben dem Charismatiker Robert Habeck? Bei den Linksgrünen
       weckte die Aussicht noch andere Ängste. Würden Habeck und Baerbock, zwei
       Realos, die Grünen vollends in die konservative Ecke schieben?
       
       Nun, gut ein halbes Jahr später, sind die Bedenken geschrumpft wie
       Eiswürfel in der Augustsonne. Die Grünen liegen in Umfragen bei satten 15
       Prozent, dicht hinter der SPD. Bei der Bayern-Wahl im Oktober könnten sie
       die SPD gar überholen. Baerbock, Völkerrechtlerin, Expertin für Klimaschutz
       und Europa, Mutter zweier kleiner Töchter, zieht ihr Ding durch. Sie tut
       das, nach allem, was man hört, ziemlich gut. Die Frau, die den Delegierten
       auf dem Parteitag im Januar zurief, sie wählten [1][„nicht nur die Frau an
       Roberts Seite, sondern die neue Bundesvorsitzende der Grünen“], hat sich
       Achtung verschafft.
       
       ## Bei den Grünen meckert keiner
       
       Selbst links denkende Grüne sind voll des Lobes für die Reala und die neue
       Parteispitze. Baerbock führe die Partei „sehr integrativ“, sagt Jutta
       Paulus, Landeschefin in Rheinland-Pfalz, die Baerbock seit Jahren kennt.
       Markus Kurth, Renten- und Arbeitsmarktexperte in der Bundestagsfraktion,
       sagt: „Mich freut, dass die Parteispitze Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik
       zur Chefsache macht.“ Und der Sozialpolitiker Wolfgang Strengmann-Kuhn
       findet „die Kombination aus back to the roots und Aufbruch zu Neuem gut.“
       
       Selbst über den provokant patriotischen Titel ihrer Sommerreise – „Des
       Glückes Unterpfand“ – hat bei den Grünen keiner gemeckert. Ein [2][böses
       Interview der Grüne-Jugend-Chefin in der taz], eine feine Spitze von Jürgen
       Trittin. Das war’s. Früher wäre eine Anspielung auf die Nationalhymne Stoff
       für einen handfesten Flügelzoff gewesen.
       
       Die Zufriedenheit hat auch damit zu tun, dass Baerbock und Habeck die
       Grünen wieder nach links rücken. Ausgerechnet die beiden Realo-Vorsitzenden
       knüpfen an die Tradition Trittins an, der die Partei bis 2013 prägte. Die
       Grünen, die zuletzt ihr Heil in der bürgerlichen Mitte suchten, fühlen sich
       wieder zuständig für arme, arbeitslose oder benachteiligte Menschen. Wo sie
       kann, betont Baerbock, dass das Ökologische und das Soziale
       zusammengehören. Back to the roots eben.
       
       ## Kampfeslustige Sozialstadträtin
       
       „Eigentum verpflichtet.“ Baerbock hält locker das Mikrofon in der Hand.
       „Der Satz steht bei uns im Grundgesetz.“ Die Grünen haben zu einer
       Diskussion auf die Terrasse des Hauses Seeblick in Duisburg geladen. Hinter
       Baerbock dümpeln Segelboote an einem Steg, um sie herum sitzen knapp 50
       ZuhörerInnen. Eine Frau im Sommerkleid fächelt sich Luft mit einem Flyer
       zu, Männer schwitzen in T-Shirts und Sandalen. Einer hat Baerbock gerade
       gefragt, wie man verhindern könne, dass der Duisburger Süden ein
       Reichenghetto werde.
       
       Ein paar hundert Meter weiter soll das Ufer des Masurensees bebaut werden.
       Da wo jetzt Duisburger in der Sonne liegen und trotz Badeverbot baden, da
       wo es nach Wasser, Sonnencreme und Sommer riecht, da könnten schon bald
       Gutverdiener wohnen, die ins nahe gelegene Düsseldorf pendeln.
       
       Baerbock klingt auf der Terrasse wie eine kampfeslustige Sozialstadträtin.
       Es brauche klare Regeln, sagt sie. Bei Neubauten zum Beispiel Quoten für
       Sozialwohnungen und Deckel für Mieten. [3][Großinvestoren müssten endlich
       die volle Grunderwerbssteuer zahlen.] Bei den Grünen habe es lange
       geheißen, das regele der Markt, sagt Baerbock. Sie spricht schnell,
       routiniert. „Wir sehen ja, wohin das führt.“
       
       Ordnungspolitik, ein starker Staat, der sich traut, zu steuern und zu
       verbieten. Baerbock streift mal eben das Schweigegelübde ab, dem sich die
       Grünen in den vergangenen Jahren unterworfen haben. Aus Angst als
       Verbotspartei diffamiert zu werden, trauten sie sich kaum noch, harte
       Forderungen zu stellen. Sie vermieden Kritik an Merkel und dienten sich als
       fügsame Alternative fürs Regieren an. Das Wahlprogramm 2017 wurde unter den
       Spitzenkandidaten Katrin Göring-Eckardt und Cem Özdemir auf Verbote
       gescannt.
       
       ## Nicht verhandelbar
       
       Baerbock und Habeck positionieren die Grünen kantiger. Schluss mit der
       Öko-CDU, hin zu mehr Eigensinn und Zuspitzung. Offene Konkurrenz mit der
       SPD, wenn es darum geht, wer in der linken Mitte den Ton angibt.
       [4][Baerbock und Habeck kündigen an, Hartz IV „überwinden“ zu wollen], sie
       fordern eine EU-weite Plastiksteuer oder einen Milliardenfonds, um
       Deutschland an den Klimawandel anzupassen.
       
       Hartes Zeug für Union und Wirtschaftsverbände. Und sie polemisieren gegen
       die CSU. Koalition in Bayern? Mit dieser CSU, mit Seehofer und Söder, gebe
       es keine Gespräche, sagt Baerbock. Die Grünen beißen wieder zu.
       
       Frau Baerbock, was ist das Wichtigste, was Sie als Parteivorsitzende
       geändert haben? Baerbock nimmt einen Schluck Radler, im Bordrestaurant des
       ICE 605 von Duisburg nach Mannheim ist Zeit für ein zweistündiges Gespräch.
       „Mir ist wichtig deutlich zu machen, wir Grünen haben unsere Haltung,
       unsere Werte, aber wir ziehen nicht für jedes Problem eine fertige
       Antwortschablone aus der Schublade, weil viele Dinge eben nicht
       schwarz-weiß sind.“ Gleichzeitig habe sie rote Linien. Wenn es wie im
       Seehofer-Spektakel um „europäisch“ und „national“ gehe, „dann ist ganz
       klar, auf welcher Seite wir stehen“.
       
       Fragen zulassen, aber die Essenz ist nicht verhandelbar. Das ist keine ganz
       dumme Haltung in Zeiten, in denen Politik mit komplexen Problemen
       konfrontiert ist, die nationalstaatlich nicht mehr zu lösen sind.
       
       ## Aus dem eigenen Leben
       
       Baerbock und Habeck muten den Grünen auch Unbequemes zu. Den Prozess für
       das neue Grundsatzprogramm haben sie mit einem kleinen Skandal gestartet.
       Sie stellten die Frage, ob die Grünen angesichts des Klimawandels nicht ihr
       kategorisches Nein zu Gentechnik in der Landwirtschaft überdenken müssten.
       Kam, vorsichtig gesagt, nicht bei allen gut an.
       
       Wobei man auch nicht alles glauben muss, was Baerbock und Habeck als neue
       Radikalität bezeichnen. Manchmal verkaufen sie einfach das, was schon da
       war, neu. An einer Korrektur von Hartz IV arbeiten Fachpolitiker wie Kurth
       im Grunde seit 2005, dem Jahr, in dem die Grünen aus der Regierung flogen.
       Aber gute PR gehört zur Jobbeschreibung von ChefInnen.
       
       Baerbock verbindet all das mit einem Habitus, der – um mal ganz ironiefrei
       Habeck zu zitieren – „auf Ballhöhe mit der Wirklichkeit“ ist. Sie spricht
       freier von der Leber weg als andere Politiker, ist aber vorsichtig genug,
       heikle Zitate in der Autorisierung zu streichen. Sie geht bei ihrer
       Sommertour auf Leute zu, erzählt immer wieder aus dem eigenen Leben.
       
       Einem Mann im Biergarten, der sich über den Abgasskandal der Autoindustrie
       aufregt, dass ihr Mann und sie selbst einen Diesel fahren, den sie vor
       Jahren im Glauben, ökologisch zu handeln, gekauft haben. Müttern in einem
       Familienzentrum, dass sie nachvollziehen kann, wie sie sich in dem Irrsinn
       zwischen Job, Familie und Ehrenamt aufreiben.
       
       ## Gegen traditionelle Ehrbegriffe
       
       Ein Kellerraum im Jugendzentrum Zitrone in Duisburg-Obermarxloh. Orange
       gestrichene Wände mit Fotos und Postern, rote Kunstledersofas. Fünf junge
       Leute mit, wie man so sagt, Migrationshintergrund sprechen von ihrem
       Alltag. [5][Sie nennen sich „Heroes“ und kämpfen für Gleichstellung] und
       gegen traditionelle Ehrbegriffe.
       
       In einem Video haben sie Szenen nachgespielt, die sie selbst erlebt haben.
       Ein Cousin beschimpft einen Jugendlichen, weil er duldet, dass seine
       Schwester einen Freund hat. Einer wird aufgefordert, im Namen der Ehre
       einem Typen eine reinzuhauen, weil er ihn angerempelt hat. Der antwortet:
       „An Gewalt ist nichts ehrenvoll, Bruder!“
       
       Berat, 18, lustiges Blitzen in den Augen, gestutzter Bart, erzählt, er habe
       es früher normal gefunden, Frauen als Schlampe zu beleidigen. Durch seinen
       Bruder sei er zu den Heroes gekommen. Als er seine Freunde auch in das
       Jugendzentrum einlud, fragten die: „Bist du schwul, oder was?“ – „Da habe
       ich den Kontakt zu ihnen abgebrochen.“
       
       „Krass“, sagt Baerbock. Die Geschichten der jungen Erwachsenen zeigen, wie
       schwer es ist, sich zu wehren und zu einer anderen Meinung zu stehen.
       Baerbock tut das Richtige. Sie hört still zu.
       
       ## Nähe herstellen
       
       Dann erzählt sie eine Anekdote aus ihrer Jugend. Sie spielte früher
       Fußball, ein paar Mädchen hörten in der Kabine plötzlich rechte Musik. Es
       ärgerte sie, sagt Baerbock. Aber erst nach drei Trainings habe sie sich
       getraut zu protestieren.
       
       Was schnell anbiedernd wirken kann, gelingt Baerbock ganz natürlich – sie
       stellt Nähe her. Berat, Merve und die anderen hören aufmerksam zu, nicken.
       
       Es könnte sein, dass die Grünen eine Frau gefunden haben, die einen ganz
       eigenen Weg gehen wird.
       
       11 Aug 2018
       
       ## LINKS
       
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