# taz.de -- Impulstanz-Festival in Wien: Hals- und Diskursbruch
       
       > Die Choreografin Florentina Holzinger zeigt „Apollon“ in einer
       > lustvoll-selbstermächtigenden Variante – Bullriding-Maschine inklusive.
       
 (IMG) Bild: Szene aus Florentina Holzingers „Apollon“
       
       Hat mal jemand nachgerechnet, wie lange das Zeitgenössische dauert? Dieses
       merkwürdige Kontinuum, in dem alle, die darin gefangen sind, ähnlicher
       Erfahrungen teilen? In der Kunst würde dies bedeuten, dass mehr oder minder
       alle vor ähnlichen Problemen stehen und ihre Lösungsversuche, so
       verschieden sie in Handwerk und Methode auch sind, ungefähr in eine
       Richtung zeigen. Das ist möglicherweise ein Gerücht.
       
       Irgendwann ragt das eigene Kunstwollen aus diesem Kontinuum heraus. Fällt
       es dann dem Verschwinden anheim oder der Musealisierung zu Lebzeiten?
       Welche Chancen hat das KünstlerInnensubjekt, sich als Gewordenes selbst
       erst wirklich zu erkennen?
       
       Solche Nachtgedanken müssen die Kuratoren des Wiener Impulstanz-Festivals
       wohl umgetrieben haben. Zweimal haben sie „Solos and Duets“, biografische
       Feststellungsbeschlüsse zweier Choreografinnen, angesetzt, ohne die die
       jüngere Tanzgeschichte anders verlaufen wäre.
       
       Marie Chouinard zeigt in einer dichten, schnell geschnittene Nummernfolge
       aus fast drei Jahrzehnten, wie sie den Schwung zirzensischer Elemente zum
       Aufmischen von Traditionsbeständen immer wieder nutzbar gemacht hat.
       
       Meg Stuart kompiliert fünf etwas ausführlichere Ausschnitte, ein Duett mit
       Stelzen und Motorradhelmen bearbeitet choreografische Formprobleme jenseits
       möglicher Idealzustände, ein Stuart-Standard ebenso wie die gleich mehrfach
       vorgetragene, nie enden wollende Ambivalenz in Paarbeziehungen aller Art.
       
       ## Begriff der Zeitgenossenschaft
       
       Das Nebeneinander dessen, was hintereinander war, bleibt oft rätselhaft in
       sich abgeschlossen. Es zählt zu den Paradoxien der Debatte, dass das, was
       die GenossInnen einer Zeit einen soll, ausschließlich im individuellen Wurf
       des KünstlerInnen-Genius gesucht wird. Als Begriff wird Zeitgenossenschaft
       so zunehmend diskursiv undurchlässig, reduziert sich tautologisch auf die
       Ansage dessen, was angesagt ist. Selbsterhaltung tut gut daran, sich dem
       eigenen Erfolg anzupassen.
       
       Da trifft es sich, dass Choreografin Choy Ka Fai den hochtechnisierten
       Notfallkoffer mitgebracht hat. Im aseptischen Säuselton von
       Apple-Produktvorstellungen preist der Doktor in der „Dance Clinic“ die
       Segnungen künstlicher Intelligenz zur Linderung künstlerischer Probleme.
       Eine beißende Satire auf den naiven Empirismus der „Third
       Culture“-Debatten. Die Pointe: Seine 3-D-Strichmaxln sind so animiert, dass
       sich mit gutem Willen tatsächlich individuelle Choreografie-Stile erkennen
       lassen.
       
       Unter seine KlientInnen mischt sich Florentina Holzinger. Sie zählt in
       Europa durchweg zu den Erstgenannten unter den aussichtsreichen
       ChoreografInnen ihrer Generation (Jg. 1986). Ihr Problem ist der Beifall
       und der Blick von der falschen Seite. Ihre Arbeiten handeln vom Körper,
       nicht als symbolischem Diskursort, sondern im Einsatz all seiner
       Materialität. Das ruft immer wieder die sexistische Sensationsgafferei auf
       den Plan und ebenso eine aufklärerische Prüderie, die aller Aufklärung
       standhält.
       
       Florentina Holzinger gibt mit „Apollon“ die Antwort selbst. Ihre
       Auseinandersetzung mit der Ästhetik des neoklassischen Balletts ist kein
       neues Stück, neu allerdings ist die kulturpolitische Positionierung dieses
       Abends auf die große Portalbühne des Wiener Volkstheaters. Es ist die
       implizite Absage an vergangene Freie-Szene-Routinen, die sich prekäre
       Finanzierungen zu oft in aparter Selbstmarginalisierung ästhetisch
       schönreden.
       
       Auch ist ihr Blick auf Geschichte ein anderer. Sie bleibt grundsätzlich
       verschlossen und nur einer archäologischen Annäherung zugänglich. In George
       Balanchines gefeierter Choreografie „Apollon musagète“ (1928) umtanzen drei
       asthenisch-athletische Musenkörper den Gott der Verschmocktheit. Apollon
       ist hier eine Bullriding-Maschine, die von einer Horde Mänaden des rein
       weiblichen Ensembles – in ausdrücklicher Umkehrung des sexistischen
       Sprachbilds – zugeritten, schließlich zerlegt wird.
       
       ## Unter der Darth-Vader-Maske
       
       Um dem Traum von Apollon beizukommen, braucht es einige Dosen dionysischer
       Rauschmittel. „Ich bin deine Mutter“, röchelt eine Mitspielerin unter der
       Darth-Vader-Maske und ruft die Töchter zu schöpferischer Zerstörung auf.
       
       Das ganze Arsenal der Populärkultur wird in der Dialektik bewusst
       schlechter Kunst gegen den geschichtlichen Vorläufer in Stellung gebracht,
       um ihn zu ehren. Der Zauber der Mänaden tötet wie im Dionysos-Mythos den
       Blick derer, die den entfesselten weiblichen Körper nicht ertragen, und
       öffnet das Feld zu lustvoller Selbstermächtigung in hals- und
       diskursbrecherischen Ertüchtigungen. Der Einsatz der Körper bis über die
       Schmerzgrenze ist die Konstituente einer neuen Gemeinschaft mit dem
       Publikum. Und was sind schon ein paar subkutane Nadeln gegen die
       Zurichtungen des Balletts am TänzerInnenkörper.
       
       10 Aug 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Uwe Mattheiß
       
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