# taz.de -- Europameisterschaft in Berlin: Leichtathletik kann lächeln
       
       > Gina Lückenkemper sprintet 100 Meter unter elf Sekunden und steht für
       > eine neue Offenheit. Vom Fernsehen fühlt sie sich „verarscht“.
       
 (IMG) Bild: So sieht es aus, wenn Gina Lückenkemper einen Vorlauf gewonnen hat
       
       Kienbaum taz | Neulich hat Gina Lückenkemper ein Video im Netz angeschaut,
       ein Mitschnitt, der sie ziemlich gefesselt hat: Der britische
       400-Meter-Läufer Derek Redmond tritt im olympischen Halbfinale von
       Barcelona 1992 an, kommt aber nicht weit. Nach etwa 150 Metern streikt sein
       rechter Oberschenkel. Redmond kauert auf der Bahn wie zum Gebet, doch dann
       steht er auf, humpelt los, hüpft auf einem Bein. Er wird von Weinkrämpfen
       geschüttelt. Redmonds Vater eilt ihm zu Hilfe, das Publikum sowieso, das
       sich von den Sitzen erhebt und den Leidensmarsch des Athleten ins Ziel
       enthusiastisch begleitet.
       
       „Das ist mein Vorbild“, sagt Gina Lückenkemper, die es sonst nicht so mit
       Vorbildern hat, „sein Kampfgeist und der Wille, niemals aufzugeben, haben
       mich beeindruckt, vor allem wenn man weiß, wie scheiß weh so ein
       Muskelfaserriss tut.“
       
       Wenn ihr so ein Malheur passieren würde, dann müsste sie sich immerhin
       nicht ganz so weit ins Ziel quälen, denn die 21-Jährige aus Soest ist
       Sprinterin. Bei den Europameisterschaften in Berlin beginnen heute die
       Vorläufe über 100 Meter. Am Dienstag ist das Finale angesetzt. Lückenkemper
       möchte eine Medaille gewinnen.
       
       Das ist realistisch, denn einerseits hat sie das ja schon einmal geschafft
       bei der EM vor zwei Jahren, und andererseits ist Lückenkemper eine von
       diesen Schnellläuferinnen, die die Schallmauer von elf Sekunden
       durchbrochen haben. Im Vorjahr lief sie in London 10,95 Sekunden, mit
       zulässiger Windunterstützung.
       
       Unter elf – das haben überhaupt nur sieben deutsche Sprinterinnen
       geschafft, und einige von ihnen, wie Marlies Göhr vom SC Motor Jena oder
       Silke Gladisch (SC Empor Rostock), haben ihr Ergebnis mit unterstützenden
       Mitteln, vulgo: Dopingsubstanzen, erzielt. Die letzte Deutsche, die so
       schnell war, hieß Katrin Krabbe. Das war vor 27 Jahren bei der
       Weltmeisterschaft in Tokio, als die Neubrandenburgerin die 100 Meter in
       10,91 Sekunden abspulte. Krabbe hatte freilich mit der Substanz Clenbuterol
       nachgeholfen, was ihr später eine Sperre, einen langjährigen Rechtsstreit
       und eine Entschädigung einbrachte.
       
       ## Dopingaltlasten und gute Laune
       
       Die Sprintdistanzen sind spektakulär, aber sie stehen eben immer auch im
       Ruch des Sportbetrugs. Da ist es natürlich schön für den Deutschen
       Leichtathletik-Verband (DLV), wenn jetzt nach Jahren der Flaute so jemand
       wie Gina Lückenkemper daherkommt, eine sommerfrische Athletin, die nicht
       auf den Mund gefallen ist und trotz ihres Alters druckreif und emphatisch
       über sich und ihren Sport sprechen kann. Bei Lückenkemper geht es nicht um
       Verdachtsmomente oder Dopingaltlasten, so was überdeckt sie eh mit ihrem
       sonnigen Gemüt und meist blendender Laune. Undenkbar, dass so eine
       schummelt.
       
       Der DLV setzt sie deswegen in diesen Tagen gern auf Podien und in
       Pressekonferenzen. Gina Lückenkemper soll das neue Gesicht der deutschen
       Leichtathletik werden. Die Athletin, die von der LG Olympia Dortmund zu
       Bayer Leverkusen gewechselt ist, macht bei dieser Kampagne gerne mit, denn
       sie möchte ihre Sportart pushen, endlich wieder nach vorne bringen. Und
       dazu gehört nun einmal kluge Medienarbeit: „Wir müssen die Sportart
       transparent machen, zeigen, was sie für tolle Typen und Persönlichkeiten
       hat“, wirbt sie fast schon flehentlich, auch für sich selbst.
       
       Aber da spielen nicht alle mit. Zum Beispiel das Fernsehen. Genauer: ARD
       und ZDF. Der Vorwurf: Sie huldigten nur dem König Fußball. Lückenkemper
       kann bei diesem Thema richtig fuchsig werden. Als neulich in Nürnberg die
       Deutschen Meisterschaften ausgetragen wurden, da hatte die ARD einen
       Livestream im Netz angekündigt. Aber schlussendlich lief nur Radsport, Tour
       de France.
       
       „Leute, das geht so nicht“, hat sie die Fernsehmenschen ermahnt. „Warum ist
       es nicht möglich, das Angebot breiter zu fächern?“ Die Situation in
       Nürnberg habe sie nachgerade „schockiert“, denn „die haben die Rechte, die
       Produktionsmöglichkeiten, und dann das …“ ARD und ZDF hätten letztlich
       „scheiße übertragen, ein Großteil von uns fühlt sich schlichtweg verarscht
       in so einer Situation“.
       
       ## Kritik am Fernsehen
       
       Lückenkemper versteht sich als eine Art Sportbotschafterin, und da muss sie
       eben auch mal Klartext reden; mit verdrucksten Ansagen erreicht man als
       Vertreterin einer Außenseitersportart nicht viel. Die Leichtathletik, trotz
       ihrer deplorablen Lage immer noch olympische Kernsportart, verschwindet ja
       mehr und mehr in einer Nische. So kann es nicht weitergehen – oder wie
       Lückenkemper sagt: „Die Leichtathletik hat in den vergangenen Jahren genug
       einstecken müssen.“
       
       Selbst die traditionellen Sportfeste in Zürich, Lausanne oder Oslo sind nur
       noch auf Spezial- und Spartenkanälen zu sehen. Zeit also, mobil zu machen
       und die Öffentlichkeit aufzurütteln, findet Lückenkemper, die auf ihrem
       Aufmerksamkeitsmarathon selbst erfahrene Funktionäre wie DLV-Chef Jürgen
       Kessing oder Cheftrainer Idriss Gonschinska locker in den Schatten stellt.
       
       Was bei den einen wie ein ewiges Lamento klingt, hört sich bei ihr nach
       Aufbruch und Zukunft an. Kessing sagt: „Gina ist ein Prototyp dafür, wie
       wir die Leichtathletik den Kindern wieder schmackhaft machen.“ Der
       SPD-Politiker scheint froh zu sein, die Verantwortung für die
       Revitalisierung der Leichtathletik auch ein bisschen an eine 21-Jährige
       delegieren zu können.
       
       ## Sie spielt mit den Kollegen Uno und genießt die Ruhe
       
       Die letzten Tage vorm großen Wettkampf in Berlin verbringt Lückenkemper wie
       ein Großteil der Mannschaft im Osten der Hauptstadt, in Kienbaum, wo ein
       „Olympisches und Paralympisches Trainingszentrum für Deutschland“ steht,
       das schon DDR-Athleten für den letzten Feinschliff nutzten.
       
       Lückenkemper spielt mit den Kollegen Uno, genießt die Ruhe vor dem Sturm,
       vermisst ihr Pferd Picasso, mit dem sie sich auf der offiziellen Webseite
       der EM prima hat in Szene setzen lassen.
       
       Und angereisten Journalisten erzählt sie gern auch noch mal die
       Batterie-Geschichte; dieses Detail darf ja in keiner Lückenkemper-Story
       fehlen: Sie leckt also manchmal an einem 9-Volt-Batterieblock, um „unter
       Strom zu stehen“. Das sei Teil eines „Neuroathletiktrainings“. Klingt
       abgefahren? Mag sein. Aber es bringt die nötigen Klicks. Und nichts braucht
       die Leichtathletik dringender.
       
       6 Aug 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Markus Völker
       
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