# taz.de -- Oppositionspolitiker verhaftet: Tweets aus dem Gefängnis
       
       > Ein Oppositionspolitiker wird kurz nach den Wahlen in der Türkei
       > verhaftet. Er war der Regierung schon länger ein Dorn im Auge.
       
 (IMG) Bild: Eren Erdem beim „Marsch für Gerechtigkeit“ im Juli 2017
       
       - Was wirst du tun? 
       
       - Das Ganze macht mich fertig. Meine Gedanken sind bei meiner Frau und
       meinem Sohn… 
       
       - Ist es irgendwie möglich, ins Ausland zu gehen? 
       
       - Für andere vielleicht schon, aber auf mich setzen sie direkt den
       Geheimdienst. Ohnehin… 
       
       - Ohnehin was? 
       
       - Ohnehin möchte ich hier bleiben. Ich habe doch keine Schuld. 
       
       24 Stunden nach diesem WhatsApp-Chat mit mir wird Eren Erdem festgenommen.
       Der 31-jährige Politiker saß zwei Legislaturperioden für die größte
       Oppositionspartei, die CHP, im türkischen Parlament. In der Nacht des 28.
       Juni schreibt er auf Twitter: „Ich bin im Polizeigewahrsam. Eine Begründung
       wurde mir nicht mitgeteilt. Polizisten haben mich vor meinem Haus
       verhaftet. Das wollte ich der Öffentlichkeit nicht vorenthalten.“
       
       Am 29. Juni wird er von Ankara nach Istanbul gebracht, dort wird er in
       einem Schnellverfahren im Justizpalast Çağlayan in die Untersuchungshaft
       überstellt. Zur Begründung führte der Staatsanwalt die Gefahr an, Erdem
       könnte sich Ausland absetzen – der WhatsApp-Chat beweist das Gegenteil.
       
       ## Vorwurf: Beihilfe zum Terror
       
       Erdem ist nicht nur ein prominenter Kritiker der Regierung, sondern auch
       seiner eigenen Partei. Zu den Parlamentswahlen am 24. Juni stellte ihn die
       Parteiführung nicht erneut als Kandidaten auf. Kurz nach dieser
       Entscheidung eröffnet die Staatsanwaltschaft Istanbul ein Verfahren gegen
       ihn und fordert eine Haftstrafe bis zu 22 Jahren, verbunden mit einer
       Ausreisesperre.
       
       In der Anklageschrift des Istanbuler Staatsanwalts wird Erdem vorgeworfen,
       der in der Türkei als Terrororganisation deklarierten „FETÖ“ geholfen zu
       haben. (Für die türkische Regierung steht seit dem Putschversuch im Sommer
       2016 FETÖ als Abkürzung für „Fethullahistische Terrororganisation“. Gemeint
       ist die Sekte des Predigers Fethullah Gülen, einst Verbündete der Regierung
       und als mutmaßliche Urheber des Putsches nun verfolgt, Anm. d. Red.)
       
       Ein weiterer Anklagepunkt ist die Veröffentlichung von Geheimdokumenten zu
       Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes an syrische Milizen.
       Außerdem wird Erdem vorgeworfen, der Gülen-nahen Tageszeitung Zaman während
       einer Polizeioperation durch seine Anwesenheit in den Redaktionsräumen
       beigestanden zu haben.
       
       ## Kritischer islamischer Denker und Politiker
       
       Erdem war Herausgeber der Zeitung Karşı Gazete (deutsch: Gegen-Zeitung),
       die allerdings nicht lange Bestand hatte. Drei Monate, von Februar 2014 bis
       Mai 2014 war sie auf dem Markt. Anhand von geheimen Dokumenten, die Erdem
       veröffentlichte, enthüllte er wiederholt die Machenschaften des sogenannten
       „Islamischen Staates“. Vor seiner Festnahme hatte Erdem öfter angedeutet,
       dass das Verfahren gegen ihn aufgrund der Veröffentlichung der geheimen
       Dokumente und seiner regierungskritischen Tweets laufe.
       
       Eren Erdem besuchte die Grund- und Sekundarschule in Istanbul, und besuchte
       anschließend den Koran-Unterricht. Vor seiner Karriere als Politiker setzte
       er sich in Essays mit dem traditionellen Verständnis vom Islam auseinander.
       Insgesamt veröffentlichte Erdem acht Bücher.
       
       Bevor Erdem Politiker wurde, arbeitete er für verschiedene
       Oppositionsmedien. 2011 gründete Erdem das Rebeze Kulturhaus in Istanbul,
       bekannt und beliebt bei der Bewegung der „Revolutionären Muslime“ – jener
       Bewegung, die auch bei den Gezi-Protesten 2013 eine große Rolle spielte.
       
       Nach seiner Ankunft im Gefängnis von Silivri, etwa 70 km von Istanbul
       entfernt, schrieb er erneut auf Twitter. In Anspielung auf einen Witz,
       demzufolge der ehemalige Ko-Vorsitzenden der prokurdischen Partei HDP,
       Selahattin Demirtaş, aus dem Gefängnis von Edirne (an der bulgarischen
       Grenze) per Wasserkocher Tweets versendet, schrieb er: „Grüße aus dem
       Kerker von Silivri. Heute kam ein Teekocher in mein Leben und wir verstehen
       uns sehr gut. Ich erwarte eure Bücher und Briefe. Wer nichts sendet, ist
       ein Bösewicht“. Ein lachendes Emoji sowie seine Gefängnisadresse beenden
       den Tweet.
       
       Seine Adresse lautet:
       
       Eren Erdem
       
       Silivri Ceza İnfaz Kurumları
       
       9 Numeralı Cezaevi
       
       Blok C10 / 79 Numeralı oda
       
       Silivri Istanbul
       
       Türkei
       
       Aus dem Türkischen von Cem Bozdoğan
       
       4 Jul 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Erk Acarer
       
       ## TAGS
       
 (DIR) taz.gazete
 (DIR) Politik
 (DIR) HDP
 (DIR) Schwerpunkt Türkei
 (DIR) Selahattin Demirtas
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Kurdischer Politiker Selahattin Demirtaş: Verurteilung bestätigt
       
       Ein türkisches Berufungsgericht hält vier Jahre Haft für Demirtaş aufrecht.
       Der früherer HDP-Vorsitzende ist damit rechtskräftig verurteilt.
       
 (DIR) Kommentar Urteil zu türkischer U-Haft: Heftiger Schlag für Erdoğan
       
       Das Straßburger Gericht für Menschenrechte verurteilt die Inhaftierung des
       kurdischen Politikers Demirtaş. Das könnte weitreichende Folgen haben.
       
 (DIR) Urteil zum inhaftierten Kurdenpolitiker: Türkei soll Demirtaş freilassen
       
       Das Europäische Menschenrechtsgericht fordert von der Türkei die
       Freilassung des Politikers Selahattin Demirtaş. Die Inhaftierung sei ein
       Eingriff in die Meinungsfreiheit.