# taz.de -- Kolumne Russia Today: Danke, Fifa!
       
       > Fährt man eine Stunde mit der Elektritschka, den Vorortzügen Russlands,
       > erfährt man mehr über das Land, als in einem Reiseführer steht.
       
 (IMG) Bild: Trinken ist heute strengstens verboten in den Zügen Russlands
       
       Der vielleicht größte Vollrausch der Literaturgeschichte spielt in der
       S-Bahn von Moskau nach Petuschki. Elektritschka heißen die meist arg
       langsamen Vorortzüge, mit denen die Menschen zur Arbeit in die Stadt oder
       an Wochenenden aus der Stadt raus zu ihrer Datscha fahren. „Die Reise nach
       Petuschki“ heißt die Erzählung von Wenedikt Jerofejew, in der sich die
       Hauptperson derart zurichtet, dass sie ihre Gedanken nicht mehr unter
       Kontrolle bekommt. Vielleicht wurde die Sowjetunion nie treffender
       dargestellt als durch die scheinbar wirren Gedanken, die dem Suffkopf Wenja
       bei seiner Fahrt in den 1970er Jahren kommen.
       
       Der besoffene Text, der in der nüchternen Sowjetunion der 1970er Jahre
       nicht erscheinen durfte und dennoch seine Leser fand, weil illegale Kopien
       von Hand zu Hand wanderten, gilt längst als ein Stück Weltliteratur. Er hat
       die Elektritschka berühmt gemacht. Und in der Tat ist es bis heute so,
       [1][dass man nur eine Stunde S-Bahn zu fahren braucht, um mehr über
       Russland zu erfahren], als in einem Reiseführer steht.
       
       Trinken ist heute strengstens verboten in den Zügen. Und natürlich laufen
       bei fast jeder Fahrt Polizeibeamte durch die Züge. Die Mütterchen, die
       früher die Beeren, die sie am Tag im Wald oder auf ihrer Datscha gesammelt
       hatten, unter die Leute zu bringen versuchten, dürfen auch nichts mehr
       feilbieten in der Elektritschka.
       
       Der Mann, der durch die Waggons geht, um den Leuten „original Schweizer
       Rucksäcke“ zu viel zu günstigen Preisen anzupreisen, von denen er ein paar
       Exemplare in einer Nylontasche mit sich führt, schert sich nicht um das
       Hausiererverbot in der S-Bahn. Er muss eben von irgendetwas leben.
       
       ## Der Fußball hat uns wieder, gottlob!
       
       Dann erschallt seichteste Schlagermusik und ein junger Mann singt in ein
       Mikrofon von Liebe, Herz und Schmerz. Er macht das so gut, dass viele
       Frauenherzen in der S-Bahn zumindest so weit abschmelzen, dass sie nicht
       mehr anders können, als ihm ein paar Rubel zuzustecken. Kaum hat er mit
       seiner kleinen Box den Wagen verlassen, bettelt sich ein Mann ohne Arme
       durch die Sitzreihen.
       
       Und gerade, als man beginnt sich zu fragen, wie er zu seiner Behinderung
       gekommen ist, bauen sich vier Männer in Tarnklamotten auf und geben einen
       Schlager zum Besten, um auf ihre prekäre Lage hinzuweisen. Es sind
       Kriegsversehrte, die den Reisenden vor Augen führen, dass ihr Land nicht in
       Frieden lebt.
       
       Nach einer Stunde marschiert ein Mann durch die Reihen, um hochoffizielle,
       von der Fifa lizenzierte Aufkleber mit Bildern von Spielern der russischen
       Nationalmannschaft zu verkaufen. Der Fußball hat uns wieder, gottlob! Da
       hätten wir doch beinahe schon gedacht, in Russland sei doch nicht alles so
       schön, sauber, wunderbar und seligmachend, wie es uns die Bilder aus
       Stadien und Fanzonen vermitteln.
       
       Doch da werden wir zurückgeholt in den wunderbaren Fußball-Kosmos. Danke,
       Fifa!
       
       9 Jul 2018
       
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