# taz.de -- Vor den Wahlen in der Türkei: Die Unversöhnlichen von Üsküdar
       
       > Die Wahlen an diesem Sonntag spalten das Istanbuler Viertel. Fans und
       > Gegner von Präsident Erdoğan vereint nur ihre Feindschaft.
       
 (IMG) Bild: Hoffnungsträger der Opposition: Muharrem Ince, hier im Bus stehend, fordert Erdogan heraus
       
       Istanbul taz | Der Hauptplatz von Üsküdar gleicht einem Jahrmarkt. Zelt an
       Zelt, Bude an Bude haben sich entlang des Bosporus-Ufers von der
       kurdisch-linken HDP bis hin zur konservativen islamischen AKP alle Parteien
       positioniert. Sie versuchen, mit ihren Lautsprechern den jeweils anderen zu
       übertönen. Schon am Vormittag herrscht ein infernalischer Lärm. Wahlkampf
       in Istanbul.
       
       Wer sich mit den Vertretern an den Wahlzelten verständigen will, muss die
       Stimme erheben, um sich Gehör zu verschaffen. Der Stand der regierenden AKP
       ist ausschließlich mit älteren Damen besetzt, die dem Klischee der
       AKP-Wählerin so ganz widersprechen. Eine Frau trägt statt des Kopftuchs
       eine blondierte Perücke und hat dazu grellrot geschminkte Lippen. Die
       andere Dame stellt sich als Witwe eines gefallenen Soldaten vor. „Erdoğan“,
       sagt Erstere, „ist ein echter Mann, ein starker Führer.“ „Er macht uns
       stolz und hat uns unsere Freiheit gegeben“, schwärmt die Soldatenwitwe.
       „Nie war die Türkei so frei und demokratisch wie heute“, fügt die Blonde
       hinzu.
       
       Auf die Frage, ob zur Demokratie nicht auch der Wechsel gehört und es nach
       16 Jahren Erdoğan nicht an der Zeit wäre, dass jetzt einmal die Opposition
       zum Zug kommt, räumt die Blonde ein, dass das theoretisch wohl richtig sei,
       praktisch aber unmöglich. „In schwierigen Zeiten wie jetzt brauchen wir den
       starken Führer Erdoğan.“
       
       Tatsächlich schaut der starke Führer in Üsküdar, dem historischen Zentrum
       Istanbuls auf der asiatischen Seite des Bosporus, den Passanten an jeder
       Ecke ins Gesicht. Alle verfügbaren Flächen sind mit Großporträts des
       amtierenden Präsidenten behängt, auf denen er als der „starke Führer einer
       großen Türkei“ angepriesen wird. In Üsküdar kommt noch ein spezielles
       Plakat hinzu, auf dem Erdoğan erklärt, dass er ein echter Üsküdarer, also
       ein Mann aus dem Bezirk ist. Tatsächlich steht die Privatvilla des
       Präsidenten auf einem schwer bewachten Areal hoch über Üsküdar, von wo aus
       Familie Erdoğan auf die Stadt und den Bosporus hinunterblicken kann.
       
       Der Eifer aller Parteien, in Üsküdar um Wähler zu werben, kommt nicht von
       ungefähr. Es handelt sich um einen der wenigen Bezirke Istanbuls, in denen
       der Wahlausgang ungewiss zu sein scheint. Bei den letzten Kommunalwahlen
       hatte ein AKP-Mann im Kampf um den Bürgermeisterposten den Sieg
       davongetragen, doch bei dem Referendum um die Einführung von Erdoğans
       Präsidialverfassung im April letzten Jahren sagten 53 Prozent der
       WählerInnen aus Üsküdar Nein zu der Ausweitung seiner Macht.
       
       ## In der Teestube bei Erdogans Freunden
       
       An Mehmet Bey und Niyazi Bey kann das nicht gelegen haben. Die beiden
       älteren Herren sitzen etwas abseits des Trubels vor einem kleinen Teehaus
       und genießen den Tag. Mehmet Bey entspricht bis zur Karikatur dem Klischee
       des klassischen Konservativen aus Üsküdar: Ein langer weißer Bart umrahmt
       würdevoll sein faltiges Gesicht. Sein Freund Niyazi dagegen, mit Jackett
       und randloser Brille, trägt nicht einmal einen Schnurrbart. Doch in ihren
       Ansichten zur Politik und dem Leben überhaupt stimmen sie vollkommen
       miteinander überein.
       
       Das gilt vor allem für den großen Führer Recep Tayyip Erdoğan. „Erdoğan“,
       sagt Mehmet Bey und sein Freund Niyazi Bey nickt eifrig dazu, „Erdoğan ist
       ehrlich, gradlinig und fleißig. Er ist gläubig und er liebt sein Land.“ Vor
       allem aber habe der Präsident „eine unerschöpfliche Energie“, sind sich
       beide einig. Wo andere nach 16 Jahren im Amt Ermüdungserscheinungen zu
       erkennen glauben, sehen sie nur den unermüdlichen Diener des Landes. „Seine
       Energie kommt von oben“, sagt Mehmet Bey, „seine Gebete geben ihm Kraft.“
       
       Niyazi Bey wundert sich, warum Erdoğan ausgerechnet in Deutschland so
       angefeindet wird. „Wir haben Deutschland doch schon im Ersten Weltkrieg
       unterstützt. Wir haben Arbeiter geschickt, die geholfen haben, Deutschland
       nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufzubauen. Wir mögen die Deutschen, doch
       dann dürfen unsere Politiker dort nicht mehr auftreten und stattdessen
       laufen die PKK-Terroristen frei herum. Warum tut die deutsche Regierung
       das?“
       
       Erdoğan sei den Deutschen in den letzten 16 Jahren zu groß geworden,
       vermutet Mehmet Bey, sie wollten ihn und die Türkei wieder kleiner machen.
       „Das wird aber nicht gelingen“, beteuert er. „Selbst wenn das Volk hungern
       sollte, es bewahrt seine Würde.“
       
       Kritiker Erdoğans halten beide im besten Fall für irregeleitete Menschen,
       im schlechtesten für Verräter. Einwände gegen Erdoğans Herrschaft tun sie
       als Verleumdung ab, Muharrem İnce, der wichtigste Kandidat der Opposition,
       ist für sie schlicht ein Lügner. Keine Sekunde ziehen sie seine Argumente
       gegenüber Erdoğan auch nur in Erwägung. Dass es mit dem Land wirtschaftlich
       bergab gehe und die Lira immer mehr an Wert verliere, sei eine Verschwörung
       von außen. „Nach der Wahl kommt das wieder in Ordnung“, gibt sich Mehmet
       Bey überzeugt. Arbeitslosigkeit sei auch so eine Erfindung von İnce, seit
       Erdoğan an der Regierung sei, „wächst unsere Wirtschaft so schnell wie
       nirgendwo sonst auf der Welt“.
       
       Das zeige sich auch in seinem persönlichen Leben. „Meine Kinder haben heute
       gute Jobs und können im Urlaub ans Meer fahren“, das sei früher undenkbar
       gewesen, sagt er. Für ihn besonders wichtig ist die von Erdoğan geschaffene
       Gesundheitsversorgung für alle Türken, auch für die ärmeren Menschen. „Ich
       bekomme sofort einen Termin im Krankenhaus, wenn ich das brauche“, sagt
       Mehmet Bey, „davon konnten wir vor Erdoğan nur träumen.“
       
       Zum Abschied gibt er uns noch einen guten Rat: Deutschland solle mit
       Erdoğan zusammenarbeiten, dann könne es nur profitieren. Denn: „Erdoğan ist
       von Gott geschickt und durch seine Gebete ist seine Kraft unerschöpflich.“
       
       ## Religion versus Säkularität
       
       Das Teehaus der beiden liegt mitten im historischen Üsküdar, unweit der
       Grabstätte eines berühmten Sektenscheichs, die heute als muslimische
       Wallfahrtsstätte dient. Wie in alten Zeiten, als die Mekka-Pilger sich in
       Üsküdar sammelten, um von dort in die Heilige Stadt aufzubrechen, gibt es
       im Zentrum immer noch Geschäfte, die auf den Bedarf von Pilgern eingestellt
       sind. Die wichtigste Moschee in Üsküdar wurde von Sinan, dem berühmten
       Baumeister von Süleyman dem Prächtigen, im 16. Jahrhundert errichtet und
       ist der Sultanstochter Mihrimah gewidmet.
       
       Doch neben diesem traditionellen Kern existiert auch noch ein ganz anderes
       Üsküdar. Es ist der Teil, dessen Bewohner dem Präsidenten die Niederlage
       bei dem Verfassungsreferendum bereitet haben. Diese Üsküdarer leben nicht
       im historischen Zentrum, sondern in den Bosporus-Vororten, die zwar zum
       Bezirk gehören, aber eine ganz andere Geschichte haben. Kuzguncuk zum
       Beispiel ist so ein Ort, in dem bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts
       überwiegend Juden und Griechen lebten und der immer noch den Geist der
       Toleranz vergangener Jahre ausstrahlt. In einem Café an der baumbestandenen
       Hauptstraße sitzt eine junge Frau, die so ganz anders daherkommt als die
       beiden Alten im Zentrum von Üsküdar.
       
       Schon das Café, in dem Asude Kurtdemir gerne frühstückt, ist eine andere
       Welt als das Teehaus im historischen Teil Üsküdars. Es wird von einer
       Gruppe Frauen betrieben und hat auch überwiegend weibliche Gäste. Asude
       Kurtdemir studiert Politik und Internationale Beziehungen. Aus ihrer
       Ablehnung des Präsidenten macht sie keinen Hehl: „Das Schlimmste an Erdoğan
       ist nicht sein Macho-Gehabe oder sein Machthunger, sondern seine Politik
       der Spaltung“, meint sie. „Er spaltet das Land und hetzt die Leute
       gegeneinander auf, das ist furchtbar.“ Asude Kurtdemir will zur Versöhnung
       in der Türkei beitragen, deshalb unterstützt sie die kurdisch-linke HDP.
       
       Sie kommt aus einer türkischen Mittelschicht-Familie, ich bin eine „weiße
       Türkin“, sagt sie lachend über sich selbst, „aber dennoch bin ich für die
       HDP, weil es ohne diese Partei keinen Frieden geben wird“. Die HDP kämpfe
       dafür, dass alle Menschen in der Türkei unabhängig von ihrem ethnischen
       Hintergrund in Freiheit leben könnten, sagt sie: „Deshalb bin ich für sie.“
       In ihrer Familie hatte Kurtdemir lange Ärger wegen ihrer politischen
       Einstellung. „Meine Mutter hat früher die Nationalisten gewählt“, erzählt
       sie, „doch jetzt hat sie sich der CHP zugewandt und ist damit auch Teil der
       Opposition geworden.“
       
       ## Im Café bei Erdogans Gegnerin
       
       Asude Kurtdemir erzählt, dass sie einmal aus einem Studentenclub
       hinausgeworfen worden sei, weil man dort keine „Terroristin“ habe dulden
       wollten. Doch je größer die Anfeindungen gegen sie seien, umso mehr sei sie
       von der Notwendigkeit überzeugt, gerade die HDP zu unterstützen. „Erdoğan
       hat so viel Hass gebracht, wir müssen etwas dagegen tun, wenn wir weiterhin
       hier leben wollen.“
       
       Vor der Wahl am Sonntag hat sie eher Angst, als dass sie große Hoffnungen
       mit dem Urnengang verbindet. Trotzdem glaubt Kurtdemir, dass die HDP eine
       gute Chance habe, wieder ins Parlament zu kommen. „Es ist gut, zu sehen,
       dass auch die anderen Oppositionsparteien uns unterstützen, obwohl die HDP
       nicht Teil der Oppositionsallianz ist.“ Tatsächlich hat der Kandidat der
       sozialdemokratisch-kemalistischen CHP, Muharrem İnce, den HDP-Kandidaten
       Selahattin Demirtaş im Gefängnis in Edirne besucht, wo er seit November
       2016 unter dem Vorwurf der Terrorpropaganda einsitzt.
       
       Und selbst die Kandidatin der rechtskonservativen, Meral Akşener, hat
       gefordert, dass Demirtaş für den Wahlkampf aus der Untersuchungshaft
       entlassen werden sollte. Auch wenn diesem Anliegen nicht entsprochen wurde,
       sieht Asude Kurtdemir innerhalb der Opposition einen Zusammenhalt, den es
       so in den letzten Jahren nicht gegeben habe. „Die anderen Parteien wissen
       natürlich, dass sie die absolute Mehrheit der AKP nur dann brechen können,
       wenn auch die HDP ins Parlament kommt. Auch deshalb unterstützen sie uns.“
       
       Tatsächlich gibt es etliche CHP-Anhänger, die aus taktischen Gründen bei
       der Parlamentswahl für die HDP stimmen wollen und dabei auch von der
       CHP-Führung unterstützt werden. Im Gegenzug hofft Muharrem İnce, dass die
       HDP-Wähler ihn dann in einem möglichen zweiten Wahlgang bei der
       Präsidentenwahl gegen Erdoğan unterstützen.
       
       Überhaupt hat die CHP-Führung seit der Ankündigung vorgezogener Wahlen
       außerordentlich clever agiert. Zunächst ordnete Parteichef Kemal
       Kılıçdaroğlu an, dass 15 CHP-Parlamentarier zur neu gegründeten İyi-Partei
       wechseln, damit diese Fraktionsstärke bekommt und nicht von den Wahlen
       ausgeschlossen werden kann. Dann verzichtete er großmütig auf eine eigene
       Kandidatur und schickte stattdessen Muharrem İnce ins Rennen um die
       Präsidentschaft.
       
       Im Gegensatz zum drögen Kılıçdaroğlu ist Muharrem İnce ein begnadeter
       Wahlkämpfer. Zum ersten Mal seit Erdoğans Sieg im Jahr 2002 glauben die
       CHP-Anhänger an einen Sieg ihres Mannes. „İnce macht einen maximal guten
       Wahlkampf“, sagt Serkan, der im Basar in Üsküdar T-Shirts verkauft. „Er
       kann die Leute mitreißen und mobilisieren und er gibt Erdoğan so gut Kontra
       wie kein CHP-ler zuvor. Es gelingt ihm sogar, Erdoğan vorzuführen und in
       die Defensive zu bringen.“
       
       ## Furcht vor der Wahlfälschung
       
       Serkan ist überzeugt, dass İnce Erdoğan schlagen kann, „wenn wir nicht um
       unsere Stimmen betrogen werden“. Die Angst vor Wahlbetrug ist bei den
       Anhängern der CHP eines der dominierenden Themen. Die Partei hat über
       300.000 Wahlhelfer mobilisiert, die in den Wahllokalen am Sonntag die
       Auszählung beobachten sollen. Ebru, die Managerin des Cafés, in dem die
       Studentin Asude Kurtdemir so gerne frühstückt, erzählt, sie habe in der
       letzten Nacht einen Albtraum gehabt, in dem Erdoğan sich am Ende des
       Wahltags einfach zum Sieger erklärte. „Was sollen wir dann machen?“, fragt
       sie mit spürbarem Entsetzen. Dahinter steckt die Furcht, dass Erdoğan und
       seine Anhänger eine Wahlniederlage nicht akzeptieren könnten. „Ich habe
       große Angst vor der Gewalt, die dann kommen kann. Ich hoffe, wir können
       wenigstens unser Viertel verteidigen“, sagt Ebru.
       
       Es ist diese Angst, dass ein friedlicher Wechsel in der Türkei nicht mehr
       möglich sein könnte, die die Atmosphäre in den letzten Tagen vor den Wahlen
       prägt. Einen demokratischen Wechsel, darauf basierend, dass Anhänger
       Erdoğans durch Argumente zur Wahl eines Oppositionskandidaten überzeugt
       werden, halten die meisten Anhänger der CHP und HDP für wenig
       wahrscheinlich. „Die AKP-Anhänger sind ungebildete Ignoranten vom Land,
       religiöse Fanatiker oder Profiteure des ,Systems Erdoğan'“, urteilt Serkan.
       Von denen würde nie jemand die CHP wählen. Sein Laden liegt in der Nähe
       eines Taxistandes, er kennt die Fahrer dort und weiß, dass sie alle Erdoğan
       wählen. „Mit denen kann man nicht reden“, meint er, „die haben einen
       totalen Tunnelblick und lassen kein Argument gegen Erdoğan gelten.“
       
       Auch die Studentin Asude Kurtdemir glaubt nicht, dass es der Opposition
       gelingen kann, frühere Erdoğan-Wähler herüberzuziehen. „Diese Leute haben
       Angst, alles zu verlieren, was sie durch Erdoğan gewonnen haben, und die
       tägliche Propaganda in den regierungsnahen Medien schürt diese Angst
       systematisch. Nach 16 Jahren Spaltung durch die AKP sind sie voller Angst
       und Hass auf den anderen Teil der Gesellschaft. Sie werden immer Erdoğan
       wählen“, sagt Kurtdemir.
       
       Recep Tayyip Erdoğan selbst lässt keinen Zweifel daran, dass er für die
       Ewigkeit plant. Ganz so wie die großen Sultane der Osmanen lässt er noch zu
       seinen Lebzeiten eine gigantische Moschee bauen, die Istanbul für immer
       seine Herrschaftszeit aufdrücken soll. Weil die sieben Hügel in der
       historischen Altstadt schon alle mit Sultansmoscheen besetzt sind, hat er
       sich die höchste Erhebung Istanbuls, den Çamlıca-Hügel auf der asiatischen
       Seite der Stadt, für seine Moschee ausgesucht.
       
       Der Bau steht kurz vor der Vollendung, sechs Minarette, wie in Mekka,
       strecken sich bereits in den Himmel. Die Moschee gilt, wie so vieles bei
       Erdoğan, vor allem als ein Prestigeprojekt. So viele Menschen, wie nötig
       wären, um den Bau jemals zu füllen, leben in der näheren Umgebung überhaupt
       nicht. Aber das macht nichts. Denn die Hauptsache ist, dass man die Moschee
       von jeder Stelle in Istanbul aus sehen wird.
       
       23 Jun 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jürgen Gottschlich
       
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