# taz.de -- Präsidentschaftswahl in der Türkei: Das Land hat einen neuen Helden
       
       > Millionen strömen zu den Auftritten Muharrem Inces, der Erdogan beerben
       > will. Ob er das schafft, ist fraglich. Die Opposition fürchtet
       > Wahlbetrug.
       
 (IMG) Bild: Ince hat große Teile der Bevölkerung hinter sich. Kämpft er dennoch auf verlorenem Posten?
       
       Istanbul taz | Muharrem Ince hat einen Lauf. Noch vor drei Monaten war Ince
       ein Insidertipp unter Politikbeobachtern, heute kennt ihn in der Türkei
       jedes Kind, und womöglich wird er bald auch im Rest der Welt für Furore
       sorgen. Denn schließlich schickt sich [1][der ehemalige Physiklehrer] aus
       dem Westen des Landes gerade an, Präsident Recep Tayyip Erdogan, den Mann
       der weltweit zu den bekanntesten Totengräbern der Demokratie zählt, bei den
       Präsidentschaftswahlen am Sonntag ernsthaft in Bedrängnis zu bringen. Aus
       dem vermeintlichen Selbstläufer für Erdogan ist ein Wahlkampf geworden, wie
       der „große Führer“ ihn bislang noch nicht erlebt hat.
       
       Statt wie sonst die Themen vorzugeben und die Massen zu mobilisieren ist es
       jetzt Muharrem Ince, der einen sichtlich müden Erdogan vor sich hertreibt,
       und das, obwohl die regierungstreuen Medien, die in der Türkei mittlerweile
       rund 90 Prozent des gedruckten und gesendeten Wortes ausmachen, ihn nach
       wie vor versuchen zu ignorieren. Wie zum Beispiel am Donnerstagabend. Da
       hatte sich eine bislang für Wahlkämpfe unvorstellbare Zahl von rund 2,5
       Millionen in der ägäischen Küstenmetropole versammelt, um ihr neues Idol zu
       hören. Kilometerlang waren die Küstenpromenade und die dahinter liegenden
       Straßen von Ince Fans regelrecht überflutet.
       
       Minutenlang jubelten sie ihm zu, als Ince Erdogan als einen „erschöpften
       alten Mann“ bezeichnete, „der keinen Respekt mehr vor dem Volk hat und nur
       die Menschen gegeneinander aufbringt“. Ince kündigte an, er dagegen werde
       die Türkei wieder vereinen, Frieden bringen und den Wohlstand gerechter
       verteilen. Anfangs wurde die Kundgebung in Izmir von den meisten
       TV-Stationen übertragen, doch außer einigen kleinen Oppositionssendern
       schalteten alle Stationen um, als Erdogan zu Propagandazwecken auf dem
       halbfertigen neuen Großflughafen in Istanbul landete, um sich ein weiteres
       Mal mit seinen Infrastruktur-Großprojekten zu schmücken.
       
       Doch die WählerInnen strömten auch am Freitagabend in Ankara wieder zu
       Hunderttausenden zur Großkundgebung von Ince, während Erdogan sich in den
       letzten zwei Tagen vor der Wahl durch mehr als zehn kleinteilige
       Veranstaltungen in Istanbul kämpft. Der dramaturgische Höhepunkt von Inces
       Kampagne kommt am Samstagnachmittag im Istanbuler Stadtteil Maltepe. In
       einem großen Park am Meer werden drei Millionen Menschen erwartet, die alle
       auf einen Sieg von Ince hoffen. Wie immer die Wahl am Sonntag ausgeht,
       schon jetzt ist klar, die Türkei hat einen neuen Helden.
       
       ## Es kursieren Gerüchte über möglichen Wahlbetrug
       
       Je greifbarer ein Sieg der Opposition bei den Präsidentschafts- und
       Parlamentswahlen am Sonntag wird, umso mehr machen Meldungen und Gerüchte
       die Runde, dass Erdogan und die Regierung schon intensiv einen großen
       Wahlbetrug vorbereiten. Ein Grund für die Befürchtungen ist ein Video-Clip,
       den der Oppositionssender Oda-TV verbreitete und der zeigt, wie die
       Staatsagentur Anadolu Ajansi bereits komplette Ergebnistabellen aus allen
       türkischen Städten bereithält und auch das Ergebnis der
       Präsidentschaftswahlen schon kennt: 53 Prozent für Erdogan.
       
       In einer Stellungnahme verwahrte sich die Staatsagentur gegen den Vorwurf
       der Wahlmanipulation und behauptete, man habe nur die Grafiken für die
       Wahlsendung getestet und dafür alte Zahlen verwendet. Glauben tut das
       niemand. Meral Aksener, Präsidentschaftskandidatin der Iyi Partei, die als
       ehemalige Innenministerin weiß, wie der Hase läuft, hat Erdogan öffentlich
       aufgefordert, er solle zu der Information Stellung nehmen, dass er die
       Staatsagentur habe anweisen lassen, ihn spätestens um 21:30 Uhr zum Sieger
       auszurufen.
       
       Die Opposition hat darauf mit einer App reagiert, die sich jeder von rund
       600.000 Wahlbeobachtern herunterladen soll und dort die Zahlen eintragen
       soll, die in seinem Wahlbüro gezählt werden. So könne man der Staatsagentur
       eigene Ergebniszahlen entgegenstellen und verhindern, dass Erdogan sich
       einfach zum Sieger ausruft. Die Voraussetzung, dass das klappt ist, dass
       möglichst alle Wahllokale mit Beobachtern der Opposition besetzt sind. Nach
       Auskunft der Organisatoren haben sich für Sonntag gerade für Wahllokale im
       Südosten, die bei dem Verfassungsreferendum nicht besetzt waren, viele
       TürkInnen aus dem Ausland als Wahlbeobachter gemeldet. Die Opposition
       scheint für die Wahl gerüstet.
       
       23 Jun 2018
       
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