# taz.de -- J. M. Coetzee-Roman „Die Schulzeit Jesu“: Jesus? Einfach nur ein Kind im Bus
       
       > Der Autor übermalt die Geschichte von Jesus: Der kommt aus einer
       > Patchworkfamilie, ist stinkfaul und mag Ballett. Seltsam oder erfrischend
       > anders?
       
 (IMG) Bild: Übermalt einen heiligen Text: Coetzee bei einer Lesung im Reina-Sofia-Museum in Madrid 2016
       
       Der südafrikanische Nobelpreisträger J. M. Coetzee hat sich schon in den
       neunziger Jahren intensiv mit literarischen „Übermalungen“ kanonischer
       Texte und Figuren der Weltliteratur beschäftigt: In „Foe“ ging es um Defoes
       „Robinson Crusoe“, in „The Master of St. Petersburg“ um Fjodor Dostojewski
       und seinen Roman „Die Dämonen“. Eigentlich ist schon Coetzees bis heute
       berühmtestes Buch von 1980, „Waiting for the Barbarians“, eine solche
       Übermalung, nämlich des gleichnamigen Gedichts von Konstantinos Kavafis,
       das 1904 – wenig beachtet – auf Griechisch erschienen und seither zu einem
       apokryphen Zentraltext der Moderne geworden ist.
       
       Das Genre der Übermalung ist in der bildenden Kunst der Gegenwart häufiger
       und etablierter als in der Literatur. Der Österreicher Arnulf Rainer hat es
       in der zeitgenössischen Moderne verankert. Das Gattungsgesetz dieser
       Kunstform ist weder die Zerstörung noch die Rekonstruktion eines schon
       vorhandenen Werks – das vielmehr als eine ausradierte Vorgängerschrift oder
       als bereits bemalter und dann wieder abgekratzter Grund die Basis eines
       neuen abgibt. Hier und da sind der übermalte Text oder das übermalte Bild
       auf bedeutsame Weise im neuen zu sehen oder zu ahnen und es steuert damit
       vergessene Sinnschichten bei (die durch diese Technik neu gültig werden
       oder zumindest in neuem Licht erscheinen).
       
       Seit „Die Kindheit Jesu“ (2013) hat Coetzee mit der Übermalung eines nicht
       nur kanonischen, sondern sogar heiligen Textes begonnen: der Lebens- und
       Sterbensgeschichte Jesu Christi, wie sie in den Evangelien der Apostel
       Matthäus, Markus, Lukas und Johannes berichtet wird – und die Grundlage des
       christlichen Glaubens bildet.
       
       „What if god were one of us“, sang Joan Osborne in den neunziger Jahren,
       „just a slob like one of us, just a stranger on the bus?“ Seit 325, als das
       Konzil von Nicaea die Glaubensdoktrin von der göttlichen Seinsqualität Jesu
       festschrieb (sie gilt bis heute), steht ein skandalöses Paradoxon im
       Zentrum der christlichen Religion: die Glaubenszumutung, dass um die
       Zeitenwende in Palästina ein Mann gelebt haben, am Kreuz gestorben und
       auferstanden sein soll, der zugleich ganz Mensch und ganz Gott war. Die
       Evangelien sind ein heiliger Text, aber auch ein literarischer. Seine
       erzähltechnische Strategie besteht in der künstlerischen Glaubhaftmachung
       des christologischen Paradoxons.
       
       ## Experiment des Popsongs
       
       Die Evangelien erzählen die Lebensgeschichte eines jüdischen
       Wanderpredigers im Palästina der Zeitenwende so, dass sie dessen
       menschliche und zugleich göttliche Doppelnatur narrativ beweisen: seine
       Menschlichkeit durch die Berichte über seinen Tod am Kreuz und seine
       Göttlichkeit durch die Berichte über seine Wunder und seine Auferstehung.
       John Coetzee dagegen dreht in seinen Jesusromanen, dessen zweiter, „Die
       Schulzeit Jesu“, jetzt auf Deutsch vorliegt, die Erzählstrategie der
       Evangelien um: Ihm kommt es nicht darauf an, einen Menschen narrativ zu
       vergöttlichen, sondern darauf, einen Gott als Menschen zu erzählen.
       
       Nicht zufällig setzt Coetzee an der Leerstelle der kanonischen Evangelien
       an, die sich über die Lebenszeit Jesu vor seiner geschichtlichen
       Wirksamkeit, also über die Jahre vor seinem dreißigsten Lebensjahr,
       weitgehend ausschweigen. Dass die kanonischen (also die vier ins Neue
       Testament aufgenommenen) Evangelien kaum über die Kindheit und Jugend Jesu
       berichten, ist einer der wichtigsten Unterschiede zwischen ihnen und den
       zahlreichen „apokryphen“ Evangelien, die den Theologen des vierten
       Jahrhunderts nicht glaubwürdig vorkamen und deshalb nicht ins Neue
       Testament aufgenommen wurden.
       
       Coetzee schreibt das Gedankenexperiment des Popsongs von Joan Osborne und
       Eric Bazilian romanhaft aus. Was wäre, wenn Gott in Wirklichkeit neben uns
       im Bus sitzen würde? Coetzees Jesus – der im Roman allerdings Davíd heißt
       – fährt tatsächlich jeden Tag mit dem Bus zur Schule, oft zusammen mit
       seinem Vater, der nicht sein wirklicher Vater ist – Simón statt Joseph –,
       während seine Mutter, die nicht seine wirkliche Mutter ist – Inés statt
       Maria –, in einem Modegeschäft arbeitet und sich von Simón getrennt hat.
       Coetzees Jesus-Romane sind ein apokryphes Evangelium nach dem Durchgang
       durch die literarische Moderne.
       
       Das Vorhaben einer Vermenschlichung des Göttlichen ist künstlerisch bedroht
       durch das erzählerische Risiko der Banalität. Die Realität kann die
       göttliche Substanz mit Bedeutungslosigkeit infizieren, was nur im komischen
       Genre erlaubt wäre. „Look, god comes out of the bathroom“, heißt es zum
       Beispiel in Woody Allens „Annie Hall“ über einen der damals zahlreichen
       Sechziger-Jahre-Gurus, der im Film gezeigt wird, wie er gerade aus der
       Toilette kommt.
       
       ## Unduldsam und herrisch: nicht gerade der „liebe Herr Jesus“
       
       Coetzee umgeht dieses Risiko dadurch, dass er seine Vermenschlichung Gottes
       in einem Land stattfinden lässt, dessen vordergründige
       Realitätsgesättigtheit er durch kleine, aber folgenreiche Eingriffe
       surrealistisch verfremdet. Schon wie die heilige Patchwork-Familie dort
       eigentlich hingekommen ist, verstehen wir nicht. Es scheint eine Seereise
       gegeben zu haben, auf der alle ihr Gedächtnis verloren.
       
       Und die drei befinden sich in einer wüstenartig trockenen und heißen
       spanischsprachigen Gegend, wo eine Art puritanischer Kommunismus herrscht.
       Davíd ist ein rebellisches, schwer beschulbares, offenbar hochintelligentes
       Problemkind, das seinen Vater, der ihn sehr liebt und unaufhörlich über ihn
       nachdenkt, durch seine Kälte, seine Selbstständigkeit und seine erratischen
       Reaktionen zur Verzweiflung bringt (seiner Ziehmutter scheint er dagegen
       eher egal zu sein, sie lebt ihr eigenes Leben).
       
       Hier projiziert Coetzee eine Eigenschaft des historischen Jesus, die man
       bei der Lektüre der Evangelien selten beachtet, sehr plausibel in dessen
       Kindheitsgeschichte. Denn der Jesus, den wir aus den Evangelien kennen, war
       nicht der „liebe Herr Jesus“ unserer Kindergebete. Er war unduldsam,
       herrisch, legte hoch unrealistische moralische Maßstäbe an die Gesellschaft
       seiner Zeit an und neigte zu paradoxen, irritierenden und gelegentlich
       gewalttätigen Interventionen und Sprachhandlungen. Die Evangelien berichten
       von einer geradezu empörenden Kälte des Heilands gegen seine leiblichen
       Verwandten.
       
       Interessant ist auch Coetzees Lösung der „Schulprobleme“ Jesu. Das
       Jesuskind der Evangelien sehen wir nicht in irgendeiner Schule, sondern im
       Gegenteil als Lehrer, der die Schriftgelehrten der örtlichen Synagoge in
       Erstaunen versetzt. Was aber müsste ein Gott, der Mensch geworden ist, in
       einer Schule tatsächlich lernen? Was weiß und kann er noch nicht? Coetzee
       schickt Davíd in eine „Akademie“, wo er tanzen lernt, eine Art des Tanzens,
       die von den Lehren der Pythagoräer, einer Wissenschaftler- und
       Theologensekte des sechsten vorchristlichen Jahrhunderts, beeinflusst ist.
       
       ## Prostituierte & Verbrecher
       
       In der Akademie sind die Lehren der vorsokratischen Philosophen
       Pythagoras-lebendig. Einer der erzählerischen Höhepunkte ist ein Vortrag
       über den sogenannten „Homo-Mensura-Satz“ des Sophisten Protagoras, nach dem
       der Mensch das Maß aller Dinge sei. Auch Davíds geliebte Lehrerin, die
       verführerische Ana Magdalena, ist eine Pythagoräerin. Sie glaubt an
       Zahlenverhältnisse als grundlegende Baugesetze des Makrokosmos und des
       Mikrokosmos, des Universums und der Seele – und an den Tanz als Ausdruck
       dieser Weltgesetze.
       
       Ana Magdalena wird ermordet – worauf sich Davíds glühende und durch ihre
       Unbedingtheit irritierende Liebe ihrem Mörder zuwendet: Dmitri, der redet
       wie Raskolnikow in Dostojewskis „Verbrechen und Strafe“ und heißt wie einer
       der Brüder Karamasow. Auch hier ist ein erstaunlicher Zug des biblischen
       Jesus in einer kindlichen Version zu erkennen.
       
       Jesu Mission war die Erlösung, und er interessierte sich in seinem kurzen
       und folgenreichen Leben ausschließlich für Menschen, die Erlösung nötig
       hatten, nämlich für verachtete, hilflose, böse, feige und unterdrückte
       Menschen: Prostituierte, verhasste Zolleinnehmer, Gelegenheitsarbeiter,
       Fischer, Verbrecher. Reiche dagegen forderte er auf, ihr Vermögen zu
       verschenken; die moralischen und religiösen Autoritäten seiner Zeit
       beleidigte und bedrohte er; dem römischen Statthalter, der ihm vor seinem
       Tod goldene Brücken zu bauen versucht hat, antwortete er nicht einmal, bis
       der ihn achselzuckend seinen Henkern übergab.
       
       Coetzees Roman ist von Literaturkritikern als seltsam und letztlich
       unverständlich gerügt worden. Aber vielleicht zeigt das nur, dass „Das
       Urchristentum im Rahmen der antiken Religionen“ (wie das berühmte Buch
       Rudolf Bultmanns von 1949 heißt) auch heutigen Gebildeten so seltsam
       vorkommt und so unverständlich geworden ist wie die christlichen Lehren
       selbst.
       
       ## Zu den Klängen eines Kinderlieds lernt er tanzen
       
       Eigentlich aber ist „Die Schulzeit Jesu“ auch ein Roman über Simón/Joseph.
       Alle Ereignisse werden aus dem Blickwinkel des Adoptivvaters der heiligen
       Hauptfigur erzählt, und von ihm ist durchgehend – mit einem irgendwie
       alttestamentarischen Zug – als von „Er, Simón“ die Rede.
       
       Zum Schluss tritt diese Nebenfigur nach vorne, als der erste Nachfolger
       Davíds/Jesu. Nachdem er seinen heiligen Schutzbefohlenen vor einer
       Volkszählung verborgen hat, tritt er in die Akademie ein, als unbezahlter
       Hausmeister (wie Ana Magdalenas Mörder vor ihm), und er verlangt, dass man
       ihm das Tanzen beibringe.
       
       In einer schönen, komischen und rührenden Szene, in Ballettschuhen, die ihm
       zu klein sind, die er vorne aufgeschnitten hat und aus denen seine Zehen
       herausragen, lernt dieser rationale, anständige, seltsam leidenschaftslose
       alte Mann zu den Klängen eines Kinderlieds tanzen. „Es ist kühl im Studio;
       er ist sich des hohen Raums über seinem Kopf bewusst. Mercedes zieht sich
       zurück; nur die Musik ist da. Mit ausgebreiteten Armen und geschlossenen
       Augen dreht er sich langsam schlurfend im Kreis. Über dem Horizont steigt
       der erste Stern auf.“
       
       31 Mar 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Stephan Wackwitz
       
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