# taz.de -- Politologin über EU-Umgang mit Kurden: „Es gibt Angst vor einem Massaker“
       
       > Die Aufmerksamkeit für kurdische Anliegen beschränkt sich in Europa auf
       > Fragen der inneren Sicherheit, sagt Bilgin Ayata. Deutschland wirft sie
       > Doppelzüngigkeit vor.
       
 (IMG) Bild: Protestierende solidarisieren sich in Athen mit Afrin – nicht alle in der EU denken so
       
       taz: Frau Ayata, welche Ziele verfolgt die AKP-Regierung mit dem Angriff
       auf Afrin?
       
       Bilgin Ayata: Die AKP-Regierung, beziehungsweise Staatspräsident Erdoğan
       hat seit Jahren seine Ablehnung des Erstarkens der Kurden in der Region
       geäußert. In den letzten fünf Jahren konnten die Kurden in Syrien wichtige
       Teile des Landes zu autonomen Gebieten ausbauen. Das ist der türkischen
       Regierung ein Dorn im Auge.
       
       Das Ziel der Türkei ist es, dieses Erstarken zu brechen? 
       
       Zum einen geht es der türkischen Regierung ganz klar darum, die kurdischen
       Kräfte zu schwächen und sie als Akteur in der Region zu minimieren oder
       auszuschalten. Das zweite, übergreifende Ziel ist die Machterweiterung der
       Türkei über ihre eigene Staatsgrenze hinaus, die sie in der Region schon
       seit geraumer Zeit verfolgt. Dafür ist insbesondere der Krieg in Syrien ein
       wichtiger Schauplatz für die Türkei. Die Frage ist, ob sie sich nachhaltig
       dort niederlassen kann.
       
       Am Wochenende [1][hat die türkische Armee zusammen mit verbündeten Milizen
       Afrin eingenommen]. Was passiert nun? 
       
       Die Operation hat Tausende Kurden zur Flucht gezwungen, den jüngsten
       Berichten nach sogar 150.000 Menschen. Die Berichte, die aus Afrin kommen,
       sind sehr besorgniserregend. Man kann in den kurdischen Medien verfolgen,
       dass es eine große Angst vor einem Massaker und Massenvertreibung gibt, die
       ja schon stattfindet. Die Menschen haben Angst um ihr Leben.
       
       Viele erinnern sich dieser Tage an die Belagerung Kobanes durch den IS im
       Jahr 2014 und die große mediale Aufmerksamkeit in Europa und fragen sich,
       wieso das Interesse für Afrin viel geringer ausfällt. Haben Sie dafür eine
       Erklärung? 
       
       Dafür gibt es zwei Gründe. Zum einen ist der Angriff auf Kobane vom IS
       ausgeführt worden. 2014 wurde der IS als eine zentrale Bedrohung angesehen
       und die Kurden haben eine sehr wichtige Rolle dabei gespielt, den IS zu
       bekämpfen. Heute stellt der IS nicht mehr die gleiche militärische
       Bedrohung in der Region dar. Der zweite, für die Türkei viel wichtigere
       Faktor ist, dass die EU 2016 einen Flüchtlingsdeal mit der Türkei
       vereinbart hat. Seitdem haben die Rüstungsexporte in die Türkei weiter
       zugenommen. Kurdische Medien berichten, dass die Türkei in Afrin auch
       Waffen aus Deutschland einsetzt. Seit dem Deal erfährt die Türkei noch mehr
       Rückhalt – auch wenn sich europäische Regierungsvertreter in der
       Öffentlichkeit kritisch über Erdoğan äußern. Die Türkei kann
       völkerrechtswidrige Handlungen in Afrin begehen, weil sie weiß, dass der
       Flüchtlingsdeal die internationalen Reaktionen im Rahmen hält.
       
       Ist der Flüchtlingsdeal der einzige Grund, warum sich die EU und
       Deutschland in Bezug auf Afrin zurückhalten? 
       
       Diese Flüchtlingskooperation spielt auf jeden Fall eine wichtige Rolle. Ein
       weiterer Grund für die verhaltenen Reaktionen ist der Umstand, dass die
       Türkei Nato-Mitglied ist. Es war tatsächlich immer wieder so, dass die
       Türkei die Kurden im eigenen Land, aber auch in den angrenzenden Regionen
       angreifen konnte, ohne dass es großen Widerstand gab. Dieses Verhalten wird
       durch den Flüchtlingsdeal nur noch weiter verstärkt, der zu einem
       Faustpfand für die türkische Regierung geworden ist.
       
       Mit der gegenwärtigen Lage im syrischen Bürgerkrieg wiederholt sich ein
       Muster in der Geschichte der Kurden: Wieder einmal werden sie zum Objekt
       der Machtpolitik von Großmächten. Was ist der Grund für diese historische
       Kontinuität? 
       
       Das ist prägnant mit einem Zitat zu beschreiben. Als der kurdische
       Menschenrechtler Tahir Elçi 2015 in Diyarbakır auf offener Straße ermordet
       wurde, sagte der damalige kurdische Oppositionsführer Selahattin Demirtaş
       auf der Beerdigung von Elçi: „Es ist nicht der Staat, der uns tötet,
       sondern unsere Staatenlosigkeit.“ Das ist ein Satz, der die historische
       Lage der Kurden sehr gut zusammenfasst. Weil sie keinen eigenen Staat
       haben, sind die Kurden ein Spielball der regionalen Interessen. Das war vor
       50 Jahren so, das war vor 90 Jahren so, das ist heute so. Solange sich die
       Kräfteverhältnisse für die Kurden nicht verändern, indem sie Formen von
       Staatlichkeit erlangen, wird sich vermutlich an dieser Situation wenig
       ändern – trotz der beachtlichen politischen Erstarkung, die die Kurden im
       21. Jahrhundert erfahren haben.
       
       Wie wirkt sich die Militäroperation in Afrin auf die Kurden in der Diaspora
       aus? 
       
       Proteste in Europa sind wichtiger Teil der kurdischen Mobilisierung, denn
       das ist das Wenige, was sie als staatenlose Gruppe tun können, um in Form
       von politischer Opposition Gehör zu erlangen. Der Angriff des militärisch
       zweitstärksten Nato-Mitglieds auf eine nichtstaatliche Gruppe stellt eine
       enorme Machtasymmetrie dar. Seit 40 Jahren haben sich Kurden immer wieder
       mit lautstarken Protesten und Massenmobilisierung gegen die Politik der
       Türkei gewehrt, sei es in der Türkei oder in Europa. Im Unterschied zu den
       Kurden, die in der Region leben, haben die Kurden in Europa zudem Zugang zu
       kritischen Medien, als etwa im sehr begrenzten Informationsbereich der
       Türkei.
       
       Welchen Logiken folgt die mediale Aufmerksamkeit in Deutschland bezüglich
       der türkischen Kurdenpolitik? 
       
       Aus meiner Erfahrung kann ich folgendes sagen: Die Journalisten melden sich
       bei mir, wenn es zu Konflikten zwischen kurdischen und türkischen Migranten
       in Deutschland kommt und nicht wenn die Türkei kurdische Zivilisten in
       Afrin tötet. Die mediale Aufmerksamkeit für das, was tatsächlich derzeit in
       der Region passiert, wächst erst dann, wenn es auch Konsequenzen für Europa
       gibt. Das mediale Interesse ist sehr einfach gestrickt. In dem Moment, wo
       es um Aspekte der inneren Sicherheit in Deutschland geht, werden die
       Ereignisse viel stärker wahrgenommen. Die Ereignisse allein lösen kein
       Interesse in diesem Maße aus.
       
       Wie bewerten Sie die Haltung der Bundesregierung bei diesem Konflikt? 
       
       Natürlich mit Doppelzüngigkeit: Immer wieder wird der Zerfall der Türkei in
       einen Autoritarismus kritisiert, aber wenn die Türkei offensichtlich das
       Völkerrecht verletzt, wird geschwiegen. Diese Doppelzüngigkeit ist umso
       gravierender, wenn man bedenkt, dass das Land, das derzeit so viel
       finanzielle Unterstützung zur Flüchtlingsabwehr bekommt, selber ein Land
       ist, das Flüchtlinge produziert, sei es im eigenen Land oder jetzt in
       Afrin. Gleichzeitig reicht es nicht, immer nur die Bundesregierung zu
       kritisieren. Ich denke, auch die europäische Öffentlichkeit, wir alle,
       tragen eine Mitverantwortung für diese Entwicklungen. Immer, wenn wir uns
       zurückhalten mit einer Kritik am Flüchtlingsdeal aus Angst, dass mehr
       Flüchtlinge die AfD und den europäischen Populismus stärken, geht Erdoğans
       Rechnung auf.
       
       21 Mar 2018
       
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