# taz.de -- Prozess gegen HDP-Politiker: „Die Anklage ist rechtswidrig“
       
       > Selahattin Demirtaş ist seit 15 Monaten inhaftiert. 460 Tage nach seiner
       > Festnahme hält er seine Verteidigungsrede. Sie dauert insgesamt 16
       > Stunden.
       
 (IMG) Bild: Figen Yüksekdağ und Selahattin Demirtaş, HDP-Co-Vorsitzende, nach der Wahl 2015
       
       2014 wird Selahattin Demirtaş Mitglied der prokurdischen Partei der Völker
       (HDP) und wird gemeinsam mit Figen Yüksekdağ zum Co-Vorsitzenden gewählt.
       Im selben Jahr tritt er als Präsidentschaftskandidat an. Bei den
       Parlamentswahlen 2015 führt er seine Partei mit über sechs Millionen
       Stimmen als drittstärkste Partei ins türkischen Parlament und gilt zu
       dieser Zeit als politischer Hoffnungsträger für die kurdische Bewegung.
       
       Im November 2016 wird der Oppositionspolitiker Selahattin Demirtaş in
       Diyarbakır verhaftet. Seitdem sitzt er im westtürkischen Edirne in
       Untersuchungshaft. Ihm wird unter anderem „Terrorpropaganda“,
       „Mitgliedschaft in einer Terrorgruppe“ sowie „Volksverhetzung und
       Aufstachelung zur Gewalt“ vorgeworfen. Die Staatsanwaltschaft fordert 142
       Jahre Haft.
       
       Mitte Februar fand die dreitägige Verhandlung in Ankara statt, bei der
       Demirtaş das erste Mal persönlich dabei war. Solange er noch den Vorsitz
       der Partei inne hatte, wurde er aus „Sicherheitsgründen“ von den
       Verhandlungsterminen ausgeschlossen. Die Anklageschrift, bestehend aus 31
       Einzeldossiers, umfasst 600 Seiten. Der Oppositionspolitiker hielt am
       letzten Verhandlungstag eine 16-stündige Verteidigungsrede, die im
       Folgenden als kommentierte Auszüge zu lesen ist.
       
       ## Friedensverhandlungen als Druckmittel
       
       „Ich fordere keine Freilassung. Ich bin politischer Abgeordneter gewesen,
       die Anklage ist gesetzwidrig, der Prozess muss fallen gelassen werden.“ 
       
       Mit diesen Worten beginnt Demirtaş seine Rede. Das Gericht lehnt seine
       Forderung ab. In den folgenden Stunden spricht der Oppositionspolitiker vor
       allem über die Friedensverhandlungen zwischen der türkischen Regierung und
       der kurdischen Bewegung, die 2010 in Oslo und 2013 auf Imralı geführt
       wurden (der Gefängnisinsel im Marmarameer, auf der Abdullah Öcalan
       inhaftiert ist, Anm.d.Red.). Demirtaş sieht in diesen Verhandlungen die
       eigentlichen Motive für seine Verhaftung.
       
       „Beide Seiten haben die Verhandlungen nicht mit der gleichen Absicht
       geführt. Während sich meine Seite um die Entwicklung einer demokratischen
       Politik bemüht hat, ist die Regierung nur auf Machterhalt aus gewesen.
       Sowohl beim Referendum 2010 als auch bei den Beschlüssen der HDP, mich als
       Präsidentschaftskandidaten aufzustellen und als Partei zu den
       Parlamentswahlen 2015 anzutreten, wurden stets die Friedensverhandlungen
       als Druckmittel instrumentalisiert.“ 
       
       2010 rief die Partei des Friedens und der Demokratie BDP (Vorgängerpartei
       der HDP) zum Boykott des Verfassungsreferendums 2010 auf. Die Regierung war
       auf ihre Forderung, die Zehn-Prozenthürde zu senken, nicht eingegangen,
       daher sah die BDP ihre Interessen nicht genug vertreten. Trotz immenser
       Kritik aus fast allen Oppositionsparteien stimmte die Bevölkerung mit
       großer Mehrheit für die Verfassungsänderung, die mehr Demokratie versprach,
       aber maßgeblich die Schwächung des Militärs zur Folge hatte. Kritiker sahen
       darin Erdoğans Streben danach, die Justiz in seine Gewalt zu bringen.
       Tatsächlich kündigte er kurz nach der erfolgreichen Volksabstimmung die
       Einführung des Präsidialsystems an.
       
       ## Der Wendepunkt
       
       Die türkische Regierung warnte die BDP und später die HDP bei jeder
       politisch unliebsamen Entscheidung davor, die Friedensverhandlungen zu
       gefährden, die mit dem Verlesen von Öcalans Newroz-Botschaft in Diyarbakır
       eine andere Dimension gewonnen hatten. Die PKK wurde aufgerufen, die Waffen
       niederzulegen. Erdoğan, seinerzeit Premierminister, trat mit dem
       Präsidenten der Autonomen Region Kurdistan (Irak) Masud Barzani und dem
       populären kurdischen Liedermacher Şivan Perwer gemeinsam bei einer
       Kundgebung in Diyarbakır auf und sagte: “Wir werden erleben, dass die
       Kämpfer aus den Bergen zurückkehren, die Gefängnisse sich leeren und dass
       79 Millionen Menschen zu einer gemeinsamen Türkei zusammenwachsen. Haben
       Sie keinen Zweifel daran!“ Demirtaş glaubt, dass seine
       Präsidentschaftskandidatur 2014 das Ende der Friedensverhandlungen
       eingeleitet hat.
       
       „Im Jahr der Präsidentschaftswahlen waren die Friedensverhandlungen auf
       Imralı noch im Gange. Ich war keineswegs erpicht darauf, für die
       Präsidentschaft zu kandidieren, aber die Partei beschloss, mich als
       Kandidaten aufzustellen. Erdoğan ließ über Imralı Druck ausüben, damit ich
       die Kandidatur zurückziehe. Die Regierungsdelegation, die die Verhandlungen
       auf Imrali führte, ließ mir mitteilen, der Herr sei von meiner Kandidatur
       ‚extrem beunruhigt‘. Wir bemühen uns, die PKK zum Niederlegen der Waffen zu
       bewegen, doch wir beabsichtigen nicht, die HDP zum Ausstieg aus der Politik
       zu bewegen. Meine Antwort lautete: Wir glauben an demokratische Politik.
       Und wir werden in demokratischer Weise aktiv sein.“ 
       
       Demirtaş wird auch vorgeworfen, die PKK mitbegründet zu haben. „Dabei war
       erst ich fünf Jahre alt, als sie gegründet wurde“, verteidigt er sich auf
       der Anklagebank. Den Vorwurf der Regierung, die HDP sei aus Imralı
       gesteuert, versucht er zu entkräften, indem er von den Hintergründen des
       Beschlusses der HDP-Vorgänger-Partei BDP zum Boykott des
       Verfassungsreferendums von 2010 berichtet.
       
       ## „Da zürnte Seine Majestät“
       
       „Nach dem BDP-Boykottbeschluss des Verfassungsreferendums hat ein Minister
       mir ein Schreiben mit der Handschrift von Öcalan gebracht, in dem es hieß:
       ‚Welchen Beschluss Ihre Partei auch fasst, wir respektieren ihn. Doch ich
       bitte Sie als Partei zu erwägen, ob die Verfassungsänderung nicht einen
       neuen Dialog, einen Friedensprozess eröffnen könnte.‘ Er sagte nicht:
       Unterstützt es oder unterstützt es nicht. Uns wurde dieser Brief als Order
       aus Imralı von der Regierung überbracht. Wir haben es nicht angenommen. Wir
       setzten unseren Boykott fort. Da zürnte Seine Majestät: 'Sollten sie nicht
       Anweisung aus Imralı bekommen?’, soll Erdoğan seine Minister gefragt haben.
       Und die sagten: 'Wissen wir wirklich nicht.’ An diesem Punkt setzte die
       eigentliche Krise für uns ein. Erdoğan persönlich war es, der begann,
       politischen Druck auf unsere Partei auszuüben.“ 
       
       Die Anklage gegen Demirtaş beinhaltet auch seine Beteiligung an den
       Friedensverhandlungen, die in Koordination mit der Regierung geführt
       wurden. Dabei war mit einem eigens erlassenen Gesetz abgesichert worden,
       dass Interaktionen mit PKK-Mitgliedern im Rahmen der Friedensphase keine
       Straftat darstellen. Als Schuldbeweis ist der entsprechenden Akte ein Foto
       beigefügt, das Demirtaş und Öcalan zeigt.
       
       „Der Gefängnisdirektor hat das Foto aufgenommen, ich habe den Abzug später
       aus dem Justizministerium erhalten. Falls dieser Punkt in der Anklage
       tatsächlich eine Rolle spielt, sollten sich alle AKP-Zuständigen und
       Beamten, die bei den Friedensverhandlungen dabei waren, vom
       Staatspräsidenten bis hin zum Premierminister, einer Straftat schuldig
       gemacht haben, werden wir uns gemeinsam verantworten.“ 
       
       Aus Regierungskreisen wurde die 16-stündige Verteidigungsrede von
       Selahattin Demirtaş bisher nicht kommentiert. Am Ende der dreitägigen
       Verhandlung setzte das Gericht die Fortdauer der Untersuchungshaft fest.
       Die nächste Verhandlung findet im Mai 2018 statt.
       
       Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe
       
       2 Mar 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Çınar Özer
       
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 (DIR) Demirtaş über die Wahl in der Türkei: „Ich bin eine politische Geisel“
       
       Der Präsidentschaftskandidat der prokurdischen HDP organisiert den
       Wahlkampf aus dem Gefängnis heraus. Er ist sich sicher, dass er die
       Stichwahl erreicht.
       
 (DIR) Vor den Wahlen in der Türkei: Opposition bildet Parteienallianz
       
       Die sonst gespaltene türkische Opposition rauft sich zusammen: Wenige
       Wochen vor den Wahlen bildet sie ein Bündnis gegen Erdogans AKP.