# taz.de -- Deutscher ESC-Vorentscheid: Nur Tränen fehlten
       
       > Michael Schulte gewinnt das Ticket nach Lissabon mit dem Titel „You Let
       > Me Walk Alone“. Moderne Volksmusik? Hat keine Chance.
       
 (IMG) Bild: Kommt weiter: Michael Schulte
       
       2000 Kandidat*innen bewarben sich im Herbst vorigen Jahres. Am Ende,
       Donnerstagabend kurz nach 22 Uhr, stand er vor allen anderen und hatte
       gewonnen: Michael Schulte, 27 Jahre, Independent-Künstler, der vor den
       Toren Hamburgs in Buxtehude beheimatet ist und bei keiner Major Company
       unter Vertrag steht. Muss er auch nicht. Bereits jetzt hat er mit [1][einer
       eigenen Youtube-Präsenz] und sieben Alben 50 Millionen Views in der
       persönlichen Fame-Bilanz stehen.
       
       Schulte gewann deutlich: Er hatte das Votum der international besetzten
       Jury aus 20 Mitgliedern und einem sogenannten Eurovisionspanel, 100 Männer
       und Frauen mit Wohnsitz in Deutschland, allesamt demoskopisch ausgesuchte
       ESC-Kenner, die in den vergangenen Jahren die Platzierungen beim Eurovision
       Song Contest präziser als alle anderen vorhersagten.
       
       Beide Wertungsgerichte hatten die Lieder daraufhin zu beurteilen, ob sie
       auf dem Grand Final des ESC am 12. Mai in Lissabon reüssieren – oder einen
       ähnlich schlechten Platz wie die vorjährige Vorletzte Levina mit „Perfect
       Life“ belegen würden. So kam es, dass die Bierzelt- und Skihüttenstars von
       voXXclub ziemlich am Ende landeten. Die fünf jungen Männer lagen auch beim
       Televoting, das die Anrufenden und SMSer* des Abends zählt, nur hinter
       Michael Schulte. So endeten sie mit „I mog Di so“ (Deutsch: Ich mag dich
       echt) auf dem fünften Platz (von sechs): Alpinesk gehaltene Stimmungsmusik
       kommt bei der ARD nicht mehr in die erste Reihe.
       
       Weniger überzeugend als Schulte waren der Münchner Xavier Darcy mit einer
       Rocknummer namens „Jonah“, der Hannoveraner Ryk und dem Titel „You And I“,
       bei dem mit einer stark übertrieben dekorierten Performance am Flügel und
       einer darauf tanzenden Ballerina der dritte Platz heraussprang. Die aus
       Berlin-Neukölln stammende Ivy Quainoo wurde mit „House On Fire“ Vierte, die
       gebürtige Georgierin Natia Todua mit „My Own Way“ Sechste und Letzte.
       
       Der Sieger allerdings war in allen Wertungsbereichen der oberst Gewertete.
       Sein Lied „You Let Me Walk Alone“, eine während der drei Minuten sich
       steigernde balladeske Geschichte über den immer noch währenden Kummer ob
       des Todes des eigenen Vaters vor 13 Jahren, trug er gar nicht mal perfekt
       vor – aber das Publikum zeigte sich gerührt: Da trauert einer, kondensiert
       in drei Minuten, um eine geliebte und immer noch vermisste Person.
       
       ## Fast alles stimmte
       
       Doch eigentlich war es kein Wunder, dass dieser Mann allen anderen
       überlegen war: Das war ein Act, als wäre er in freundlichsten
       Hipsterkreisen ausgebrütet worden. Fast alles, streng genommen, stimmte
       [2][an seiner Performance]: die leicht gebrochenen Töne, die markanten
       Steigerungen bei den textlich-emotional innigsten Stellen („From One Love
       Of Two Heart“ oder auch „A Shelter From A Storm“), zudem hymnisch
       gesteigert. Ed Sheeran ist in der gleichen ästhetischen Liga verortet –
       undergroundig gehaltener Mainstream für das, was gewöhnlich
       „Gänsehaut-Feeling“ genannt wird. Mithin: ein junger Mann, der sich in
       einem Hipsterladen einen persönlichen Reim auf die Welt zu machen sucht.
       
       Vermisst wurde nur jener Beweis, der von allen Emotionalakteuren – und das
       müssen im Mainstream momentan alle sein, bei Strafe des Misserfolgs, folgen
       sie diesem Trend nicht – momentan abverlangt wird: Tränen oder besser
       gleich Tränenfluten der Rührung (und Selbstrührung). Auch bei den
       Olympischen Winterspielen in Pyeongchang guckt das Publikum, animiert von
       den Reporter*innen, ob die Medaillengewinner*innen Tränen des Glücks
       vergießen. Aber Michael Schulte weinte nicht, was wiederum auch
       verständlich ist, denn er, so sagte er bei der anschließenden
       Pressekonferenz, habe ja eine „Zwischenetappe“ nun hinter sich gebracht:
       Selbstvertrauen hat der Musiker so gewiss wie seit Lena Meyer-Landruts
       Zeiten vor acht Jahren niemand im deutschen Popbusiness, zumal des
       independenten.
       
       Welche Chancen er in Lissabon hat, wie sehr er die Hoffnungen des NDR,
       wenigstens in die obere Hälfte der Konkurrenz aus 26 Acts am Abend des 12.
       Mai zu gelangen, ist natürlich ungewiss. Die aktuellen Wetten sehen Michael
       Schulte – vorläufig – auf dem siebten Platz.
       
       ## No risk no fun
       
       Was insgesamt auffiel, war, dass abgesehen vom Sieger, keiner der anderen
       Künstler*innen ein Lied präsentierte, das nicht irgendwie wie gebremst und
       prätentiös wirkte, kraftarm und risikolos klang und aussah. Und das nach
       monatelanger Arbeit bei Auditions und einem Songwriter Camp – sie waren
       alle beteiligt an dem, was sie präsentierten: Der diese Vorentscheidung
       verantwortende NDR hatte ihnen allen sozusagen alles an professioneller
       Hilfe angedeihen lassen, was für ein Pop-Acting nötig ist – aber heraus
       kamen, auch bei voXXclub oder dem jungen Xavier Darcy, Beiträge, die
       ängstlich klangen. No risk no fun.
       
       International war Schultes Nummer die einzig konkurrenzfähige. Gleichwohl:
       Elektrosounds – so wie Tschechien und Frankreich sie zeigen werden?
       Offenbar nicht im Spiel, die ästhetische Moderne war allerdings selbst beim
       ersten Casting von „Unser Lied für Lissabon“ nicht im Angebot. Das ist
       andererseits ziemlich unüberraschend: Deutschland wagt ja in europäischer
       Hinsicht auch aktuell politisch nichts, was nach Zukunft klingt.
       
       23 Feb 2018
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.youtube.com/user/michaelschulte#p/u/0/OubPJvxkA_k
 (DIR) [2] https://www.eurovision.de/videos/ESC-Vorentscheid-Michael-Schulte-You-Let-Me-Walk-Alone,schulte348.html
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jan Feddersen
       
       ## TAGS
       
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