# taz.de -- Die Wahrheit: Ist Kannibalismus eher zopfig?
       
       > Polittalkshows sind so alt wie die Menschheit – ein gar eiliger Ritt
       > durch ein paar Jahrtausende öffentlicher Geschwätzigkeit.
       
       Politische Talkshows seien inhaltsleer und komplett verblödend, erklärte
       kürzlich ein Autor der Talkshowexpertenzeitung FAZ, ja, sie seien nichts
       als ein eitertriefendes Geschwür unserer spätkapitalistischen Zeit. Das ist
       natürlich nicht wahr. Öffentliche Talkrunden hat es schon immer gegeben.
       Sie hießen nur anders: „Controversia Romana“, „Menschen bei Machiavelli“,
       „Talk im Rittertürmchen“ oder wie auch immer. Manche waren gut, andere
       schlecht, alle aber Ausdruck ihrer Ära.
       
       Begeben wir uns zurück ins fünfte vorchristliche Jahrhundert, in eine
       festlich geschmückte Halle im Herzen von Athen. Hunderte Zuschauer rascheln
       mit ihren Papyrusflyern, neugierig auf die große Kontroverse, die gleich
       kommen mag: „Scheibe oder Kugel – Ja, was denn nun, liebe Erde?“
       
       Zu Gast: ein junger, smarter Wissenschaftler mit Namen Pythagoras, der
       runzlige König von Mesopotamien sowie sieben attische Stadträte, die nervös
       an ihren Silberringen fummeln. Die Stimmung ist angespannt. Die Stadträte
       scharren mit den Füßen, als Olympia Thukydides, die Anne Will der Antike,
       die Diskussion eröffnet.
       
       Der erste Stadtrat hat das Wort. Er räuspert sich und beschwört, diese Welt
       sei eine Scheibe. Er habe es mit den eigenen Augen gesehen, das
       Scheibenende, drei Kilometer hinter Kleinasien: einen brüchigen
       Schieferrand und dahinter eine schwindelerregende Tiefe. Zum Beweis hält er
       ein Stück Rand in die Luft (es könnte aber auch ein kaputter Keramikteller
       sein). Ein Raunen geht durchs Publikum. Der mesopotamische König ruft: „Und
       die Scheibe wird getragen von einer Riesenschildkröte und darunter vier
       blauen Elefanten!“
       
       Pythagoras meldet sich. Er wolle jetzt auch mal was sagen. Die Erde sei
       rund, so kugelrund wie seine Eier. Die Stadträte halten sich die Ohren zu
       und singen: „Lalala . . .“ Das kann den Grand Provocateur nicht schrecken,
       grinsend formt Pythagoras mit den Händen in der Luft eine Kugel und bringt
       die Stadträte in Aufruhr. Diese brüllen, Pythagoras sei ein götterloser
       Lügner, was der anschließende öffentlich-rechtliche Faktencheck – mittels
       Befragung des Orakels von Delphi – leider beweist. „Pythagoras – einsperren
       oder steinigen?“, lautet konsequenterweise der Titel der nächsten Runde bei
       „Talk in Athen“ eine Woche später.
       
       ## Frauenhosenfrage – der Renner von annodazumal
       
       Und so ging es fort. Die Jahrhunderte jagten dahin wie die großen Themen
       der Zeit. „Lepra – Pech oder gottgewollt?“, „Ist Leibeigenschaft noch
       zeitgemäß?“, „Wie krank machen Romane?“, oder „Neuguinea – annektieren oder
       mal ein Päuschen machen?“
       
       Stendal, im Jahr 1895. Ein literarischer Salon, mit weinroten Seidentapeten
       ausgekleidet. In der Mitte ein schwerer, dunkler Tisch, dahinter ein
       wilhelminischer Kachelofen von monumentalem Ausmaß. Die Flammen flackern
       wie die Blicke der geladenen Gäste. Das Thema des Abends: „Frauen in Hosen
       – Fortschritt oder Wahnsinn?“, erhitzt die Gemüter seit Jahren.
       
       Geladen sind ein preußischer Professor, ein emeritierter Gynäkologe, ein
       Frauenexperte von nicht näherer Bestimmung sowie eine Landarztgattin mit
       übergroßer Opal-Brosche. Der Professor argumentiert: Frauenhosen – wobei er
       jede Silbe angeekelt ins Unendliche dehnt – seien eine Schande der
       Menschheit, Gott hätte das nicht gewollt, und außerdem würden Frauen
       sowieso immer vergessen, den Hosenstall zu schließen.
       
       Der Gelehrte ringt die Fäuste und schlägt das weiße Haupt dreimal gegen die
       Tischplatte, um den nahenden Untergang des Abendlandes gestisch zu
       untermauern. Der Gynäkologe pflichtet ihm bei, rät jedoch auch zur
       Nachsicht. Er würde es ihnen ja gönnen, Frauen seien ja auch nur Menschen,
       neueren Studien zufolge. Jedoch, er könne Frauenhosen aus medizinischer
       Sicht nicht verantworten. Die ständige Reibung des Stoffes im Schritt würde
       die Fruchtbarkeit empfindlich gefährden und die Weiber allesamt nymphoman
       machen, wobei Letzteres jedoch vielleicht gar nicht so übel sei, wenn er
       recht überlege.
       
       Die Landarztgattin mit Opal-Brosche hebt einen Finger und wispert
       verhalten, sie würde auch gern mal ein paar Takte sagen, wird jedoch
       übertönt von dem Frauenexperten, der ruft, es sei doch vollkommen in
       Ordnung, man solle den Damen ihre Freiheit lassen, solange sie über ihrer
       Hose noch einen bodenlangen Filzrock trügen. Die Idee wird begeistert
       angenommen, und alle gehen vorzeitig nach Hause, außer die Landarztgattin,
       die noch eine ganze Weile stumm in die Kaminglut stiert.
       
       ## Reichskanzlerhitlerfrage interessierte nicht
       
       So war das damals. Dann kam der Krieg, das deutsche Kaiserreich brach
       zusammen und mit ihm einige Gewissheiten. Gute Zeiten für Zwist:
       „Demokratie – wie gefährlich ist der Volkswille?“, disputierte die Weimarer
       Republik, ehe in den frühen dreißiger Jahren die eine, alles bestimmende
       Frage die Deutschen herumtrieb: „Herr Hitler, können Sie Reichskanzler?“
       
       Die Location: der frisch renovierte Admiralspalast in Berlin. Im Stuhlkreis
       von links nach rechts: der Propagandist Joseph Goebbels, der Schauspieler
       Gustav Gründgens, der Politiker Adolf Hitler sowie Reichspräsident Paul von
       Hindenburg, eloquent moderiert von einem heute längst vergessenen
       Kabarettisten mit blonder Schmalzlocke und olivgrünen Hosenträgern. Auf dem
       Debattiertisch steht eine Schale voll Pekannüsse, dem modernen
       Knabbergenuss jener Zeit.
       
       Joseph Goebbels ergreift das Mikrofon. Er sagt, er glaube sehr wohl, dass
       Herr Hitler Reichskanzler könne. Gustav Gründgens sagt, er glaube auch,
       dass Herr Hitler Reichskanzler könne. Hindenburg knabbert an seinen
       Fingernägeln und murmelt, er schließe sich seinen Vorrednern
       selbstverständlich an. Adolf Hitler sagt, er glaube auch, dass er
       Reichskanzler könne. Die Diskussion gestaltet sich eher schleppend. Hier
       und da versucht der Moderator, ein Tickcken kontroversen Pepp
       reinzubringen, aber vergebens. Hitler gähnt und fragt, wo eigentlich die
       versprochene Kontroverse bliebe, das sei ja langweiliger als im Landsberger
       Knast.
       
       ## Rock ‚n‘ Roll war auch mal interessant
       
       Der Moderator sackt in sich zusammen: Ob irgendwer noch was sagen wolle,
       ein Für und Wider zu irgendwas? Leider nicht. Nach viereinhalb Minuten ist
       die Talkrunde zu Ende. Niemand behält recht. Herr Hitler kann überhaupt
       nicht Reichskanzler, was Jahre später neue Talkthemen aufwirft wie
       „Auschwitz – drüber reden oder verdrängen?“. Neue Jahrzehnte schließen sich
       an und mit ihnen neue Talkthemen, von „Wie hirnverbrannt ist Rock ’n’
       Roll?“ bis „Kinder und Schläge – zerbricht die Liaison?“.
       
       Und auch die Zukunft wird an bedeutenden Talkthemen ganz gewiss reich sein.
       „Hilfe, mein Nachbar ist ein Androide!“, „Holland am Arsch – wohin mit den
       Klimaflüchtlingen?“ und „Können Sie Reichskanzler, Herr Gauland?“ sind
       schon mal Kandidaten.
       
       18 Nov 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ella Carina Werner
       
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