# taz.de -- Eröffnung der Frankfurter Buchmesse: Lesen und lesen lassen
       
       > Der deutsche Buchmarkt schrumpft. Literarische Lesungen boomen dagegen.
       > Ersetzt das Event die intime Zweierbeziehung?
       
 (IMG) Bild: Auch John Irving im Münchner Residenztheater zieht die Massen an
       
       Der zweite Satz in Sven Regeners neuem Roman, „Wiener Straße“, ist
       erstaunlich – und er führt, selbst wenn es in ihm eigentlich um ganz andere
       Dinge geht, mitten hinein in die Gegenwart der deutschen Literaturbranche.
       
       Ganz harmlos fängt der Satz an: „Erwin stellte den Werkzeugkasten ab …“ Und
       dann geht er weiter und weiter, im Grunde auch harmlos. Figuren werden
       eingeführt: Frank Lehmann, Karl Schmidt, die man bereits aus Sven Regeners
       Herr-Lehmann-Kosmos kennt. Die Situation wird umrissen. Eine Wohnung in
       Kreuzberg soll renoviert werden, beim Baumarkt muss noch was besorgt
       werden. Lustige Wendungen wie „punkfreakverblödete Dusseligkeit“ fallen.
       
       Die Literaturbranche kommt gar nicht vor. Erstaunlich ist der Satz aber
       keineswegs so sehr vom Inhalt her. Erstaunlich ist vielmehr seine Form. Er
       hört nämlich gar nicht mehr auf. Am Ende der ersten Seite merkt man das
       beim Lesen: Der Satz ist aber lang! Man blättert die Seite um: Der Satz
       wird ja immer länger! Spätestens am Ende der zweiten Seite – der Satz ist
       immer noch nicht zu Ende – ist klar: Ganz nebenbei führt uns der Autor hier
       auch vor, dass es bei ihm um Sprache als Material geht, um Rhythmus und
       Klang, um die Gebautheit der Wörter auf dem Papier, kurz: um Literatur.
       
       Dritte Seite. Der Satz geht immer noch weiter, längst ein Kunstwerk für
       sich. Und wenn man schließlich ganz unten auf dieser dritten Seite des
       Romans beim Punkt dieses Satzes angekommen ist, denkt man: Den Satz möchte
       ich doch einmal vorgelesen bekommen, wollen doch mal sehen, ob der Autor
       überhaupt genug Atem für ihn hat. Dieser Satz will vorgelesen werden. Und
       genau damit passt er gut in die Gegenwart der Literaturbranche hinein.
       
       ## Autoren füllen mit Lesungen große Hallen
       
       Der geschriebene Text, die vorgelesene Sprache und der Atem des Autors:
       Damit sind wir bei einem Thema, das die Literaturszene im Vorfeld der
       Frankfurter Buchmesse sehr beschäftigt. Denn einerseits ist es so, dass die
       Autorenlesungen und die Literaturfestivals boomen. Ein Autor wie Marc-Uwe
       Kling füllt inzwischen das Berliner Tempodrom, wo sonst Bob Dylan auftritt,
       mit einer Lesung seines aktuellen Buchs, „Qualityland“.
       
       Okay, Kling, eh eher Entertainer. Aber auch ernsthafte Literatur kann große
       Hallen füllen. Die Deutschlandpremiere von Zadie Smiths Roman „Swing Time“
       fand soeben im großen Sendesaal des RBB in Berlin statt, tausend Menschen
       passen hinein, es war voll. Neben der Lit.Cologne gibt es nun auch eine
       Lit.Ruhr. Es gibt das Literaturfestival in Berlin, das
       Harbour-Front-Festival in Hamburg, das Poetenfest in Erlangen, man kann sie
       gar nicht alle aufzählen. Das sieht alles nach goldenen Zeiten aus, nach
       einem breiten und regen Interesse für die Literatur.
       
       Nur sprechen andererseits die Buchverkäufe eine andere Sprache. Es
       kursieren Zahlen, nach denen 2016 mit gedruckten Büchern 13 Prozent weniger
       Umsatz gemacht wurde als vor fünf Jahren. Und was für die Schriftsteller
       fast noch dramatischer ist: Die mittleren Auflagen dezidiert literarischer
       Titel schrumpfen. Eine Handvoll Titel verkauft sich bestens, doch gleich
       dahinter reißt es ab. Als Autor in Deutschland kann man von den
       Verkaufszahlen her entweder das ganz große Los ziehen oder gleich eine
       Niete.
       
       Zudem gab der Börsenverein des Deutschen Buchhandels soeben eine Statistik
       heraus, nach der die Anzahl der Buchhandlungen deutschlandweit abnimmt. So
       waren 2005 noch 4.422 Buchhandlungen Mitglied beim Börsenverein und 2016
       nur noch 2.964. Hauptgrund dieses Mitgliederschwunds, so der Börsenverein
       lapidar: „Aufgabe der Geschäftstätigkeit“.
       
       Die Situation ist schon ein bisschen schizophren. Offenbar wollen viele
       Menschen Autorinnen und Autoren sehen, sie wollen ihnen zuhören und sie
       einmal live erleben. Nur selbst lesen wollen sie möglicherweise nicht mehr
       so. Kann es sein, dass sich da etwas auseinander entwickelt? Die Frage
       liegt nahe, ob die Situation in der Literaturszene sich der in der
       Musikbranche angleicht, in der die Alben der jeweiligen Band längst kaum
       mehr sind als der Anlass für die nächste Konzerttournee, auf der dann das
       Geld verdient wird. Kurz, schreibt man Bücher bald nur noch, um sie auf
       Festivals präsentieren und in Literaturhäusern vorstellen zu können?
       
       ## Erträgt niemand mehr die Einsamkeit der Lektüre?
       
       Die Literaturkritikerin Sandra Kegel hat kürzlich in der FAZ eins und eins
       zusammengezählt und sich und ihre Leser gefragt, ob es am Ende nicht so
       ist, „dass niemand mehr die Einsamkeit der Lektüre erträgt“ und das
       Publikum lieber „spaßige Veranstaltungen in Literaturhäusern oder bei
       Lesefesten“ besucht. Da war was los in der Branche! Gegenartikel
       erschienen. In den sozialen Medien fühlten sich Angestellte von
       Literaturhäusern in die Show- und Eventecke gestellt.
       
       Und es mag ja auch sein, dass Sandra Kegel die Sache etwas zu pointiert
       zugespitzt hat. Aber man wird den Verdacht nicht los: Irgendwo hat sie
       dabei einen Punkt getroffen.
       
       Wenn man sich mit solchen Fragen ans Telefon setzt, verwahren sich erst
       einmal alle Gesprächspartner gegen die Rubrik „Spaßige Veranstaltungen“,
       ist ja klar. Florian Höllerer ist der Chef des Literarischen Colloquium in
       Berlin, er hat bereits Seminare zur Geschichte der Lesungen in Deutschland
       gegeben. Von ihm kann man erfahren, dass es schon im frühen 19. Jahrhundert
       ausgedehnte Lesetouren gab – und seitdem Wellenbewegungen bei der
       Beantwortung der Frage, ob es legitim oder unfein ist, den Autor eines
       Buchs leibhaftig sehen zu wollen. Es gab Phasen, in denen nichts vom
       geschriebenen Text ablenken durfte. In so einer Phase befinden wir uns nun
       aber keineswegs. „Derzeit“, so Höllerer, „wollen alle den Autor sehen.“
       
       Aber der Punkt ist ja auch, sagt Florian Höllerer dann noch, dass Lesung
       nicht gleich Lesung ist. Er macht feine Unterscheidungen zwischen seriellen
       Showformaten, in denen Autor und Moderator ihre Fragen und Antworten
       durcharrangiert haben, möglicherweise noch eine berühmte Schauspielerin den
       Text liest und alle zusammen damit auf Tour durch die Literaturhäuser und
       Festivals geschickt werden, und unikalen Veranstaltungen, in denen es einem
       Autor gelingt, sich zu öffnen und dem Publikum Einblicke in das glühende
       Herz seines Schreibens zu geben; die leicht kitschige Wendung „glühendes
       Herz“ stammt nicht von Höllerer, sondern von mir, aber im Grunde meint auch
       Höllerer genau das.
       
       In vielfältigen Variationen kann man sich solche Gedanken bei vielen
       Telefonpartnern abholen, verbunden mit der Ansicht, dass Lesungen und
       Festivals selbstverständlich auch der Literatur und der Autorin nützen –
       nur dass das eben keineswegs eins zu eins funktioniert.
       
       ## Kein Event, sondern die feine Unterhaltung über Literatur
       
       Marion Bösker vom Literaturhaus München betont, dass die Lesung „kein
       Ersatz ist für die intime Zweisamkeit mit meinem Buch“, und erwähnt den
       Empfehlungscharakter der Literaturveranstaltungen. Über Bücher, die zu
       lesen sich lohnen, informiere man sich nicht mehr so stark wie früher im
       klassischen Feuilleton, sondern eben auch über die Programme der
       Literaturhäuser. Übrigens hat die Kritikerin Sandra Kegel am selben Abend,
       als ihr Artikel erschienen, eine Veranstaltung im Münchner Literaturhaus
       gehabt; es war, so Marion Börker, kein „spaßiges“ Event, sondern eine
       schöne, genaue, feine Unterhaltung über Literatur.
       
       Thomas Böhm, der viele Lesungen moderiert, betont, dass gerade für
       ausländische Autoren eine Lesereise fast zwingend notwendig ist, um
       überhaupt wahrgenommen zu werden. Da ist etwas dran. Tatsächlich werden
       einem als Literaturredakteur Buchbesprechungen inzwischen oft nicht mehr
       zum Erscheinen des Buchs, sondern zum Zeitpunkt der ersten Lesung am
       Wohnort des freien Kritikers angeboten.
       
       Ulrika Rinke, Programmchefin beim Literaturhaus in Rostock, erweitert
       diesen Gesichtspunkt auch auf deutschsprachigen Autorinnen. „Die
       Literaturvermittler“, sagt sie, „stellen das Buch und seine Urheber immer
       wieder in den Mittelpunkt und beanspruchen Aufmerksamkeit für sie.“
       
       Helge Malchow, Verleger des Verlags Kiepenheuer & Witsch, sagt, „die
       Präsenz des Mediums Buch durch solche Veranstaltungen ist unersetzbar“.
       Durch Lesungen und Festivals werde Literatur überhaupt noch als legitimer
       Bestandteil von Kultur wahrgenommen. Malchow bringt den Boom von Lesungen
       auch nicht mit der Auflagenkrise der Bücher zusammen, sondern eher mit der
       Krise der Buchhandlungen. Leser, so Malchow, haben immer Kontakt zu anderen
       Lesern und Kommunikation gesucht. Die bekommen sie inzwischen aber oft
       nicht mehr in den kleinen, kulturell ambitionierten Buchhandlungen geboten,
       deren Zahl zurückgeht. Insofern antwortet der Boom von Leseveranstaltungen
       eher darauf, dass das Bedürfnis, Teil einer Lesegemeinschaft zu sein, vom
       Buchhandel nicht mehr befriedigt werden kann.
       
       Es ist interessant, was mit einem passiert, wenn man so herumtelefoniert.
       Man hört zu, schreibt mit, es ist ja alles auch differenziert und
       reflektiert. Allmählich aber entwickelt man bei diesen Telefonaten ein
       Gehör für etwas anderes: für die fröhlichen, manchmal geradezu
       zwitschernden Untertöne, wenn die Gesprächspartner von glückenden
       Leseveranstaltungen berichten. Neben allen Rationalisierungen kommt da auch
       ein Glutkern zum Tragen, eben ein glühendes Herz.
       
       ## Die Lesung als eine Kulturform
       
       Auf die Frage, was für sie eine geglückte Lesung ist, suchen alle
       Gesprächspartner erst einmal nach Worten, und man merkt, dass in ihnen
       Erinnerungen an gute Gespräche arbeiten, die aber erst einmal schwer auf
       den Punkt zu bringen sind. Marion Bösker vom Literaturhaus München meint,
       der Erfolg einer Lesung messe sich auf gar keinen Fall an der
       Zuschauerzahl, eher daran, dass ein Funke überspringt. Überhaupt sind
       Lesungen für sie eher eine eigene Kulturform für sich als Buch-PR. Eine
       alte Kulturform, gerade in Deutschland mit seinen geselligen
       Literatursalons schon zur Goethe-Zeit. Aber in der Breite, wie sie jetzt
       stattfinden, doch auch eine junge Kulturform, bei der vieles ausprobiert
       werden muss.
       
       Ulrika Rinke vom Literaturhaus Rostock sagt, „das Soziale bei Lesungen hat
       einen Eigenwert, zumindest ist das mein Eindruck im Rostocker
       Literaturhaus, das ich seit anderthalb Jahren leite: Das Publikum kommt
       nicht etwa, um sich durch den Besuch des Literaturhauses eines besonderen
       Status zu vergewissern, also der Zugehörigkeit zu einer exklusiven Schicht
       von Gebildeten. Ich erlebe ein genuin interessiertes Publikum, das um der
       Sache selbst willen da ist.“
       
       Einen interessanten Hinweis gibt noch der Verleger Helge Malchow. Es ist
       für ihn ein Bedürfnis nach Unmittelbarkeit, das im Publikumsinteresse an
       Lesungen zum Ausdruck komme. Und er bringt es damit zusammen, dass das
       Medium Buch historisch die Antwort darauf war, dass das unmittelbare
       mündliche Erzählen am Lagerfeuer nicht mehr weit genug trug. Helge Malchow
       muss selbst ganz kurz lachen, als er das sagt – das moderne Buchbusiness
       ist vom Lagerfeuer dann doch weit weg –, allerdings hat dieser Punkt
       unbedingt auch einen harten Kern. Den Boom der Lesungen sollte man nicht
       nur unter dem Gesichtspunkt eines Rückgangs der gedruckten Textform
       betrachten, sondern auch als Neuinszenierung tradierter mündlicher
       Erzählform.
       
       Damit spielt Helge Malchow auf eine berühmte These des Philosophen Walter
       Benjamin an, der in seinem Essay „Der Erzähler“ meinte: „Erfahrung, die von
       Mund zu Mund geht, ist die Quelle, aus der alle Erzähler geschöpft haben.
       Und unter denen, die Geschichten niedergeschrieben haben, sind es die
       Großen, deren Niederschrift sich am wenigsten von der Rede der vielen
       namenlosen Erzähler abhebt.“ Das würde besagen, dass gedruckte Literatur
       das mündliche Erzählen abgelöst hat – aber sich gleichzeitig immer noch aus
       diesen Quellen speist. Und in einer geglückten Lesung kommt dieses
       mündliche Erzählen wieder zur Geltung.
       
       ## Auch Sven Regener liest – aber auch den langen Satz?
       
       Wenn man fertig ist mit dem Telefonieren, erscheint einem der ganze Bereich
       der Literatur, wie er sich vor der diesjährigen Frankfurter Buchmesse
       präsentiert, tatsächlich seltsam doppelgesichtig. Einerseits erscheint er
       tatsächlich verletzlich und pflegebedürftig, wie die Buchverkäufe zeigen.
       Andererseits rührt er an mächtige Bedürfnisse, die sich, wenn nicht alles
       täuscht, im Boom der Lesungen ausdrücken. An diesem Anspruch werden sich
       Lesungen und Festivals aber auch messen lassen müssen. Kulinarische
       Veranstaltungen, in denen man etwa zum „Sektfrühstück mit frischen
       Literaturdebütantinnen“ eingeladen wird (alles schon gehabt), sind damit
       nicht gemeint.
       
       Das ist eine gute Stelle, um auf den Satz von Sven Regener zurückzukommen.
       Ihm kann man selbstverständlich auch dabei zuhören und zusehen, wie er aus
       seinem neuem Roman liest. Am 14. Oktober tritt er in Köln auf, am 15. in
       Göttingen, am 7. November in Kiel, weitere 17 Lesetermine folgen. „Erwin
       stellte den Werkzeugkasten ab …“ Allein für den zweiten Satz von „Wiener
       Straße“ wird er geschätzt sechs bis acht Minuten brauchen.
       
       11 Oct 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dirk Knipphals
       
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 (DIR) Literatur
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