# taz.de -- Invictus Games in Kanada: Vom Invaliden zum Sporthelden
       
       > Bei den Versehrtenspielen kämpfen Kriegsveteranen um Medaillen. Für den
       > Ukrainer Oleksandr Chub sind sie eine Chance zur Rehabilitation.
       
 (IMG) Bild: Sieht seine sportliche Chance: Oleksandr Chub
       
       „Ich will Teamkapitän werden“, verkündet ein junger Sportler aus der
       hintersten Busreise. „Du?“, schreit einer seiner Teamkollegen nach hinten,
       „du bist doch behindert.“ Anstatt zu antworten, schnallt sich der Mann
       seine Beinprothese ab und schmeißt sie auf den Pöbler. Der ganze Bus lacht.
       Es scheint, als wären die 27 Männer und Frauen auf Klassenfahrt. In
       Wirklichkeit sind sie Mitglieder des ukrainischen Nationalteams bei den
       Invictus Games und auf dem Weg zum letzten Trainingscamp.
       
       Gemeinsam mit einem Psychologen und einem Trainer bereiten sich die
       Sportler zwei Wochen in Lwiw, im Westen des Landes, auf den Wettbewerb vor.
       Noch vor dem Frühstück strampelt er 100 Kilometer auf dem Rad. Es sei ein
       hartes Training, erzählt Oleksandr Chub. Der 30-Jährige stellt sich als
       Rennradfahrer vor. Vor dem Ukraine-Konflikt sei er Seemann gewesen, danach
       Invalide. Für die Ukraine ist er einer der Auserwählten, die ab dem 23.
       September bei den internationalen Sportspielen für Kriegsveteranen im
       kanadischen Toronto antreten werden. Manche der Teammitglieder kennt er
       schon von einer ganz anderen Teamkonstellation: vom Krieg im Osten des
       Landes.
       
       Die Invictus Games sind eine paralympische Veranstaltung – und eigentlich
       eine Erfindung von Prinz Harry. Er kopierte die US Warrior Games für
       Kriegsveteranen in den USA und brachte sie mit dem Londoner
       Oberbürgermeister Boris Johnson 2014 nach Großbritannien. Eigentlich ging
       es darum, ehemalige Soldaten aus dem Afghanistan-Einsatz zu würdigen. Auch
       dieses Jahr begegnen sich auf den Spielfeldern frühere Kriegsparteien:
       Unter den 13 Teams treten Länder wie Afghanistan, Irak und die USA
       gegeneinander an.
       
       Vor den Augen prominenter Besucher sollen die „unversehrten Soldaten“
       wieder einmal um ihren Rang als Nationalhelden kämpfen. Melania Trump hat
       sich als Zuschauerin für die Spiele angemeldet, Bruce Springsteen wird das
       Abschlusskonzert spielen. Anstatt Militärabzeichen gibt es Medaillen. Die
       Invictus Games wirken wie eine Charity-Gala, bei der Sport mehr ist als nur
       Entertainment. Rund 550 ehemalige Soldaten messen sich in 12 Disziplinen,
       von Sitzvolleyball, Indoor-Rudern bis Rollstuhlbasketball.
       
       „Wir haben gelernt, mit unseren Behinderungen zu leben, sie sogar
       einzusetzen“, sagt Chub Er hinkt, während er durch die Kiewer Innenstadt
       läuft. 30 Zentimeter lange Metallstäbe halten sein linkes Bein zusammen.
       Nur noch selten spürt er die Druckschmerzen. „Wir sind alle nicht gesund“,
       sagt er über sich und seine Kollegen und lächelt, als ob er ein stimmloses
       „na und?“ hinzufügen würde. Chub, breites Grinsen, Glatze und ein
       T-Shirtaufdruck mit einem Fahrrad als Unendlichkeitszeichen, ist es gewohnt
       über seine Verletzung zu sprechen: in Talkshows, Youtube-Videos, sogar für
       einen ukrainischen Dokumentarfilm. Die Erfahrung aus dem Krieg ist das
       Marketingtool für die Invictus Games und der Grund, warum er Profisportler
       wurde.
       
       ## Erinnerungstafeln mit Bildern der Nationalhelden
       
       Fast exakt drei Jahre zuvor, Oktober 2014: Chub, damals 28, ist Teil des
       „Roten Sektors“, jener Privatarmee, die gemeinsam mit den ukrainischen
       Truppen den Flughafen Donezk gegen prorussische Separatisten verteidigt. Es
       ist das Epizentrum des damaligen Ukraine-Konflikts“ und für Chub eine
       Lebenserfahrung, „wie Counterstrike“, erklärt er. Chub stottert: „Etwas
       passiert und du bist plötzlich mitten drin, hast Einfluss auf die
       Geschichte“, sagt er und pausiert, „weißt du?“ Dann wurde Counterstrike
       Wirklichkeit. Viele seiner Kameraden wurden verletzt, er zieht sie aus dem
       Gefecht. Dann trifft Chub selbst eine Mörsergranate einen Zentimeter über
       seinem linken Stiefel und zersplittert sein Schienbein.
       
       Fast 5.000 Soldaten seien während des Ukraine-Konflikts verwundet worden,
       so berichtet es die Hauptdirektion der Militärpolizei des Ukrainischen
       Militärs. Nach einem Bericht des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen
       für Menschenrechte (OHCHR) wären es deutlich mehr, über zehntausend Opfer.
       In jeder Kleinstadt in der Ukraine stehen Erinnerungstafeln mit Bildern der
       Nationalhelden.
       
       Sie werden bei Militärparaden geehrt, im Alltag fällt den rund 300.000
       Kriegsveteranen die Reintegration schwer. Zurück aus dem Kriegseinsatz,
       steht ihnen, wie die Kyiv Post am 4. Juli titelte, ein neuer Kampf bevor:
       „der Kampf um staatliche Unterstützung“. In einem Bericht der Weltbank zur
       Situation von Veteranen gaben zwei Drittel der Befragten an, kaum
       Aufmerksamkeit von der Regierung zu bekommen. Bürokratische Hindernisse und
       Engpässe würden die Sozialversorgung blockieren.
       
       ## Ein halbes Jahr auf Krücken
       
       Die „Invalidenrente“ bleibt für viele Rückkehrer oft die einzige
       Einnahmemöglichkeit. Arbeitnehmer aber wären skeptisch, Kriegsrückkehrer
       einzustellen. Dass Veteranen traumatisiert seien, ist ein weit verbreitetes
       Vorurteil. Eine Studie der kanadischen NGO Stabilization Support Service in
       Kooperation mit der britischen Botschaft bestätigt das gängiges Stigma: 53
       Prozent der befragten Veteranen gaben selbst an, an einer Posttraumatische
       Belastungsstörung (PTBS) zu leiden. Deutlich mehr, 71 Prozent der befragten
       Zivilisten, würden ihnen eine psychische Einschränkung zuschreiben, die sie
       allein nicht lösen könnten.
       
       „Natürlich hatte ich Züge eines Traumas“, erinnert sich Chub. Er spricht
       von seinen „dunkelsten Monaten“, in denen er auf staatliche Hilfe wartet,
       die nie kommt. „Was half? Darüber sprechen“, sagt Chub, „und Sport
       natürlich.“ Ein halbes Jahr geht er auf Krücken. Dann steigt er wieder auf
       das Rad, „weil das Fahrradfahren besser funktionierte als das Laufen“. Ein
       bekannter Künstler verkaufte ein Porträt von ihm bei einer New Yorker
       Auktion. Mit den 700 Dollar Erlös fährt Chub mit dem Fahrrad durch
       Kalifornien, insgesamt 10.000 Kilometer.
       
       Zurück in der Ukraine, hört er das erste Mal von den Invictus Games. Aus
       200 Bewerbern wäre er als einer der 15 Hauptteilnehmer ausgewählt worden,
       sagt er stolz auf dem Weg zum wöchentlichen Training, vorbei an dem Ort in
       der Kiewer Innenstadt, wo vor vier Jahren der Euromaidan-Protest und die
       Krise begann. Dann steht Chub vor einem Fitnessstudio in
       Neongelb-Metallicschwarz, das eher einem Nachtclub ähnelt. Hinter der
       verglasten Türe begrüßt ihn die Empfangsdame mit Vornamen. Hier dürfen die
       Athleten kostenfrei trainieren. Ein Trainer wird gestellt. Hier werden sie
       nicht mehr wie Invaliden, sondern wie Helden behandelt.
       
       ## Eine große Chance
       
       Für ihn seien die Invictus Games auch ein Beweis, dass Kriegsveteranen sich
       selbst rehabilitieren könnten, sagt auch Chubs Teamkollege Vadym Sviridenko
       in einem Fernsehbeitrag. Während des Einsatzes wird der Militärsanitäter
       verschüttet, liegt drei Tage lang verwundet bei Minus 20 Grad im Geröll.
       Seine Gliedmaßen frieren ab. Ein halbes Jahr liegt er im Krankenhaus, doch
       sogar auf der Intensivstation gibt er Fernsehinterviews. Mühsam erlernt er
       mit speziell angefertigten Apparaten, seinen Alltag zu bestreiten: zu
       kochen oder sich anzuziehen. Heute geht er als Marathonläufer für die
       Sportspiele an den Start, mit vier speziell angefertigten Arm- und
       Beinprothesen. Zwei der Bogenschützen schießen im Sitzen, in Rollstühlen.
       Nur außerhalb des Wassers brauchen die Schwimmer ihre Krücken.
       
       „Die Limitierung ist nur in deinem Kopf“, sagt Chub und grinst breit. Schon
       auf den Pressebildern des Teams wirken die Verletzungen schon nicht mehr
       wie Handicaps: Rollstühle und Augenbinden plötzlich wie zusätzliche
       Accessoires, Prothesen wie Kampfwerkzeuge. In der Ukraine präsentieren sich
       die ehemaligen Soldaten wie Kämpfer in einem neuen Kontext und werden als
       Nationalhelden gefeiert. Die Tickets für den Wettbewerb in Toronto im
       September überreicht Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg persönlich. Zu
       den Förderern gehören neben Jaguar auch sämtliche ukrainische Ministerien.
       
       Knapp zwei Wochen vor dem Sportevent in Toronto merkt Chub die Nervosität:
       „Ich weiß gar nicht mehr, wie das mit dem Heldsein funktioniert“. Es ist
       das erste Mal, dass ein ukrainisches Team an den Start geht, für Chub eine
       große Chance. Anstatt vom Ukraine-Konflikt spricht er von „der Revolution“.
       Sie hätte der Ukraine zu einem neuen Nationalstolz verholfen: in der
       Politik, in der Wirtschaft, im Sport. „Wenn wir eine Veränderung wollen,
       müssen wir unsere Körper einsetzen“, sagt Chub, heute nicht mehr in der
       Rolle eines Soldaten, sondern eines jener, die die Ukraine in einem ganz
       anderen Kampf auf die globale Tribüne bringen möchten: „Wir Ukrainer
       durften nie stolz sein. Jetzt endlich haben wir die Möglichkeit.“
       
       24 Sep 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ann Esswein
       
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