# taz.de -- Kolumne Immer bereit: Ständig fragte ich nach Sojamilch
       
       > Besserwessitum und Lebensmittelunverträglichkeiten scheinen im
       > kollektiven Empfinden der Deutschen eine Einheit zu bilden. Klar scheint:
       > Ostdeutsche haben keine Allergien.
       
 (IMG) Bild: Schützte auch vor Allergien: der antiimperialistische Schutzwall
       
       Etwas Erstaunliches ist passiert. Ich kann es selbst noch kaum fassen. Ich
       bin jetzt Westberlinerin. Nicht durch Heirat oder Urkundenfälschung. Durch
       eine Kurzgeschichte. Ich hatte einen Text in einer Zeitung über unsere
       Radtour durch Sachsen und Brandenburg.
       
       „Schriftstellerin“, murmelte Paul. „Ich kann nicht mal mehr pinkeln, ohne
       dass es nachher in der Zeitung steht.“
       
       Der Running Gag des Textes war, dass die Protagonistin, also ich, an
       Gluten- und Laktoseintolleranz litt und deshalb ständig nach Sojamilch
       fragte, die es, wie zu erwarten war, fast nirgendwo gab. Und dann trudelten
       die Leserbriefe ein.
       
       ## „Gestorben an Gewehrschüssen!“
       
       „Dieser Artikel ist so ein typisches Zeugnis Westberliner/ westdeutscher
       Überheblichkeit!“, schrieb ein Leser, der selber aus Hamburg kam. Ein
       anderer mahnte: „17 Millionen Ostdeutsche haben vieles vermisst, deshalb
       revoltiert … Reismilch und glutenfreies Brot war nicht dabei. Gestorben
       sind die Leute an Gewehrschüssen, wenn sie versucht haben rauszukommen,
       nicht an gepflegten Unverträglichkeiten!“
       
       Ich staunte. Besserwessitum und Lebensmittelunverträglichkeiten scheinen im
       kollektiven Empfinden der Deutschen eine Einheit zu bilden. Eine
       gesamtdeutsche Einheit. Allen schien es klar wie Kloßbrühe: Ostdeutsche
       haben keine Allergien. Der Ostdeutsche isst morgens Jägerschnitzel, mittags
       Soljanka, und abends schiebt er sich bei der Wiederholung eines „Polizeiruf
       110“ von 1978 noch einen Broiler mit Pfannkuchen rein. Meine unzureichende
       Darmfunktion hatte meine kulturelle Identität zunichte gemacht. Ich hatte
       verschissen sozusagen.
       
       Ich bekam Studien zugeschickt, wonach Ostdeutsche weniger an Allergien
       litten als Westdeutsche, dieses Märchen von der verpesteten Luft, die die
       DDR-Kinder abhärtete. Die Studie bezog sich aber auf das frisch
       wiedervereinigte Deutschland kurz nach der Wende. Heute sind die Zahlen
       ausgeglichen.
       
       Mein Asthma wurde schon zu Ostzeiten diagnostiziert. Da war ich fünf. Das
       mit der Laktose merkte ich in Hamburg, als ich 20 war, meine
       Glutenunverträglichkeit kam letztes Jahr in Schweden heraus. Auf beides
       hatten mich Freunden gebracht, wegen meiner ständigen Beschwerden. „Geh
       doch mal zum Arzt, vielleicht verträgst du was nicht.“
       
       ## Allergien sind doch Hobby
       
       Ich wäre ja selber nie auf die Idee gekommen. Ich hab eben oft
       Bauchschmerzen, dachte ich. Anderen Leuten geht es viel schlechter. Nun
       mach kein Fass auf! Und Allergien und Unverträglichkeiten sind doch nur ein
       Hobby, mit dem sich Leute interessant machen, die sonst keine Probleme
       haben. Dachte ich.
       
       Ich bin eben doch ein Ossi! In der DDR war Individualismus nämlich verpönt.
       Das Kollektiv stand an erster Stelle. Der Einzelne sollte seinen Beitrag
       zur Sache leisten. Und auch wenn beileibe nicht alle Ostdeutschen mit dem
       real existierenden Sozialismus zufrieden waren, so haben den
       Kollektivgedanken doch die meisten verinnerlicht. Ich auch. Meine Tante
       kann bis heute nicht mit Lob oder Bewunderung umgehen.
       Schriftstellerkollegen aus dem Osten, die ich frage, was für Gagen sie
       verlangen, nennen mir Summen, die jeden Westkollegen zu Tränen rühren
       würden.
       
       Es ist die Idee unserer neoliberalen Gegenwart, die eigenen
       Befindlichkeiten so weit auszuloten, dass man auf bestimmte Nahrungsmittel
       verzichtet, um sein Wohlbefinden noch weiter zu steigern. Und vor allem
       seine Umwelt damit zu belästigen, Substitute zu fordern. Das ist
       großstädtische Zimperlichkeit.
       
       Das Motto heißt: Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt. Extrawürste
       gibt es nicht. Schlimm genug, dass du nicht essen willst, was wir für dich
       gekocht haben, aber dann schäm dich wenigstens dafür, und sag es nicht noch
       laut.
       
       Der Witz ist, dass es Sojamilch und glutenfreies Brot heute in jedem
       Supermarkt gibt. Auch auf dem Land. Auch im Osten. Und falls es da draußen
       irgendjemanden gibt, der seit Jahren unter Bauchschmerzen leidet und keine
       Freunde mehr hat, weil er ständig vor sich hin pupst, dem möchte ich
       hiermit sagen:
       
       Geh doch mal zum Arzt, vielleicht verträgst du was nicht.
       
       10 Sep 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Lea Streisand
       
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