# taz.de -- Kontroverse „Gewalt und die Linke“: Der Anteil der Anteillosen
       
       > Die politisch-mediale Aufregung um die Krawalle in Hamburg lenkt vom
       > Scheitern des Gipfels ab – und vom politischen Charakter der Riots.
       
 (IMG) Bild: Die Riots gehören zum Gesamtgeschehen des Protests, ob man das will oder nicht
       
       Seit Samstag wohnen wir einer Inszenierung bei, die fatal an den Deutschen
       Herbst 1977 erinnert. Das verdichtet sich in der Kategorie, unter der die
       Ereignisses gefasst werden („Terror“), in der Sprache, in der die Kategorie
       verortet wird („bürgerkriegsähnliche Zustände“), im konsequenten Ausschluss
       der sogenannten Mordbrenner aus dem politischen Raum („Kriminalität“) und
       der rechtsentbindenden Ermächtigung der Staatsorgane („europaweite Jagd“).
       
       Um zu verstehen, was passiert, muss man zunächst sehen, dass die große
       Politik gerade drei Niederlagen erlitten hat. Zuerst das Scheitern des
       G20-Gipfels selbst: Die G20 gibt es nicht, jedenfalls nicht als planvoll
       handelndes Gremium globaler Governance. Über hohle Versprechen und brüchige
       Leerformeln ist man nicht hinausgekommen.
       
       Das zweite Scheitern betrifft die Durchführung des Gipfels in der Großstadt
       Hamburg. Zwar konnte keines der Treffen blockiert werden. Doch war die
       Stadt trotz Aussetzung der rechtsstaatlichen Ordnung nicht unter die
       politisch-polizeilich gewünschte Kontrolle zu bringen.
       
       Das wurde gesehen, gehört und ausgesprochen, von vielen Bürger*innen,
       nahezu allen Protestierenden, nicht wenigen Journalist*innen. Darin liegt
       die dritte Niederlage. Die politisch-mediale Hysterie soll das vergessen
       machen, mit noch unbestimmtem Ausgang.
       
       ## Man muss es gesehen haben
       
       Hamburg belegt, dass und wie die Polizei systematisch paramilitarisiert
       wurde und jetzt auch so eingesetzt wird. Man muss die immer neuen Trupps
       von Robocops im schnellen Lauf, das bedrohlich langsame Vorrücken von immer
       wenigstens zwei Wasserwerfern samt Räumpanzern gesehen und die blechernen
       Durchsagen der Einsatzleiter gehört haben, um das auch sinnlich zu
       begreifen. Man muss plastisch werden lassen, wie kilometerbreit die
       Verbotszone war, die den städtischen Raum zerteilte, um jede freie Bewegung
       zu unterbrechen: Ich brauchte am Freitagnachmittag drei Stunden von den
       Landungsbrücken zur Universität, weil alle direkten Wege gesperrt waren,
       weder Bus noch Bahn und auch keine Taxis fuhren.
       
       Man muss sich eigens erinnern, von Dienstag bis Samstag ununterbrochen die
       Rotorblätter der Polizeihubschrauber gehört zu haben. Man muss die
       GSG-9-Kommandos, ihre großen BMW und ihre Maschinengewehre gesehen haben.
       
       Zum Ausnahmezustand gehört die Entbindung der Einsatzkräfte vom Recht. Das
       zeigt sich im Abräumen der gerichtlich zugelassenen Camps, in der
       Zerstörung der Zelte, in der gezielten vielfachen Körperverletzung. Das
       zeigt sich in dichter, weil strategischer Form während der „Welcome to
       Hell“-Demonstration am Donnerstagabend. Auch ich habe nicht geglaubt, dass
       sie ihr Ziel erreichen würde, deshalb war ich vor Ort. Zum Angriff kommt es
       schon nach wenigen Metern, an vorab ausgesuchter Stelle, in einem
       brückenüberspannten Hohlweg, zwischen hohen Mauern links und rechts.
       
       Die rechtlich bindende Verhältnismäßigkeit von Anlass und Antwort wird
       wortwörtlich mit Füßen getreten. Der Anlass: die Vermummung von deutlich
       weniger Schwarzgekleideten, als die Polizei vermeldet. Die Antwort:
       Einkesselung des ganzen Blocks, systematisches Verprügeln der
       Eingekesselten. Die werden gegen die Mauer gedrückt, die Schlagstöcke
       zielen auf die Knie, also auf ihren Sturz. Dann wird zugeschlagen. Die Zahl
       der Verhafteten ist lächerlich niedrig: weil es nicht um die
       Ingewahrsamnahme von Straftäter*innen, sondern um kollektive körperliche
       Züchtigung geht.
       
       ## Niederlage der Polizei
       
       Auf dem rechten Seitenweg oberhalb der Straße stürmt ein Polizeikommando
       durch die Zuschauer*innen. Zwei junge Männer setzen sich hin, die
       Einsatzkräfte laufen rechts und links vorbei. Eine Beamter springt von
       hinten auf die Sitzenden, dreht sich um, tritt enthemmt auf sie ein. Bevor
       wir eingreifen können, zerren ihn seine Kolleg*innen fort, nach vorn, in
       den Angriff anderswo. Gewalt gegen Personen, und hundertfache Lust an
       dieser Gewalt, der paramilitärischen Staatsgewalt. Zu deren Niederlage
       gehört, dass sich wenig später eine zweite Demonstration formiert und zur
       Reeperbahn zieht, bunt zusammengesetzt aus vielen, die absichtlich oder
       zufällig vor Ort waren. Ähnlich am Freitag, dem Tag der Blockaden. Tausende
       meist junge Leute sind der Staatsgewalt stets drei Schritte voraus, trotz
       Wasserwerfer und Räumpanzer.
       
       Schließlich die Freitagnacht. Was zuerst zu sagen ist: Es geschieht sehr
       viel weniger, als die Fernsehbilder suggerieren. Nicht das Schanzenviertel
       brennt, sondern einige seiner Ecken. Nicht die Läden werden gestürmt,
       sondern ein paar Läden. Unberührt bleiben Kneipen und Cafés, es wird
       getrunken, gegessen, geredet, gelacht. Dass es gleich um die Ecke anders
       zugeht, zeigen spät erst die Hubschrauber, kopfüber am Nachthimmel stehend,
       die Pfeffersprayschwaden durchleuchtend. Was sich über Stunden hinzieht,
       erinnert von fern an Paris 2005, an London 2011.
       
       Daran setzen die Nachrichtenredaktionen der großen Sender an, die
       Kommentare von Welt, FAZ, Bild, von Altmaier, Schulz, Scholz, Maas, zuletzt
       auch Wagenknecht: „Marodierende Banden, Kriminelle, Terrorist*innen“. Darin
       kommen alle überein, unterstützt von Shitstorms der Wutbürger*innen in den
       sozialen Netzwerken, der Gewaltlust der freiwilligen Knechtschaft. Während
       man von rechts auf das Linkssein der Riots pocht, wird ihnen von links der
       politische Charakter abgesprochen: ein in der Sache rechter Reflex.
       Einigkeit besteht in der Einforderung bedingungsloser Distanzierung. Bild
       lädt zur massenhaften Denunziation, der Polizeipräsident dankt.
       
       Die Riots gehören zum Gesamtgeschehen des Protests, ob man das will oder
       nicht. Sie setzen den Kontrapunkt zur Elbphilharmonie, wo Trump, Putin,
       Erdoğan und Merkel die Ode an die Freude hören. Ja, auch im Riot wirkt
       Gewaltlust, in einigen Zügen männlich grundiert, in manchen dümmlich, in
       anderen narzisstisch. Doch ist der Aufruhr nicht unpolitisch, sondern eine
       Grenzposition des Politischen. Er verweigert die Kommunikation, und er
       kommuniziert diese Verweigerung.
       
       ## Die, die „unvernehmlich“ bleiben
       
       Das ist paradox, das ist gefährlich, das ist nicht zu rechtfertigen. Das
       bewährt seinen politischen Charakter aber gerade im Zurückweisen des
       Sichrechtfertigens. Das ist außer-ordentlich und antwortet so auf die
       Aussetzung der Rechtsordnung von oben und das Elend der Welt. Womit nicht
       gesagt ist, dass alle Beteiligten „von unten“ kommen: Es vereinen sich
       teils hochgebildete Aktivist*innen mit Kids vom Block und Leuten, die das
       Außerordentliche am Schopf packen. Dabei handelt es sich weniger um Arme
       als um die zur Minderheit Verdammten: Man trägt Flachbildschirme als heiß
       begehrte Beute weg, man wirft Flachbildschirme ins lodernde Feuer, wo sie
       laut „puff“ machen. Gewalt für und gegen Sachen.
       
       In der direkten Aktion ihrer Gewaltlust fordern Aktivist*innen, Kids und
       Gelegenheitsmitspieler*innen ein, was philosophisch als der Anteil der
       Anteillosen bezeichnet wird. Der Anteil derer, die „unvernehmlich“ bleiben,
       weil ihnen im Einvernehmen der Mehrheitskommunikation kein Platz bleibt –
       auch nicht im Einvernehmen des linken Mainstreams (besonders griechische
       und französische Anarchist*innen ziehen es darum vor, nicht zur Linken
       gerechnet zu werden). Das ist eminent politisch – und das kann deshalb, und
       sei’s absichtslos, eminent links werden (muss es aber nicht, jedenfalls
       nicht überall und jederzeit).
       
       Wer das wenigstens vernehmen will, darf sich nicht hinters Zielfernrohr der
       Staatsgewalt imaginieren: wie das alle tun, die nur Marodeur*innen sehen
       wollen. Bleiben die rund achtzigtausend Demonstrant*innen vom Samstag. Von
       ihnen ist hier wie anderswo kaum die Rede. Das wäre ohne die Riots, daran
       hängt viel, nicht anders gewesen. In mehrfacher Hinsicht wird darüber noch
       zu sprechen sein.
       
       12 Jul 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Thomas Seibert
       
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