# taz.de -- Die Wahrheit: Auf keinen Fall Hype!
       
       > Privat: ein schmerzhafter Hausbesuch bei Martin Schulz. Es gibt
       > hausgemachte Süßkartoffelspaghetti an einer Ingwer-Avocado-Bolognese.
       
 (IMG) Bild: Anmerken lässt er sich nichts
       
       Die Verletzungen sitzen tief. Man sieht es am über die Ufer tretenden
       Wasserblau seiner bebrillten Augen, die in solchen Momenten noch wässriger
       wirken als sonst. Man sieht es am Zittern seiner vollen Lippen inmitten des
       Bartgekräusels, das zu seinem Markenzeichen geworden ist. Vor allem aber
       sieht man es an den Händen des Kandidaten: Martin Schulz hat sich beim
       Hobeln der Süßkartoffelspaghetti mit dem Sparschäler in die Finger
       geschnitten, von ihnen tropft Blut.
       
       Es muss wehtun, Martin Schulz zu sein – jedenfalls in diesem Moment.
       Anmerken lässt er sich jedoch nichts. Fast nichts. „Diese Wunden schmerzen,
       das gebe ich freimütig zu“, gibt er freimütig zu, denn um das Problem
       herumreden möchte er keinesfalls. Warum auch? „Was uns nicht umbringt,
       macht uns nur härter“, seufzt er, während er Salz auf die blutenden
       Hautstellen streut und sie dann stöhnend verbindet. „Und kälter,
       kleinlicher und gemeiner!“ Korrekt. Wer so viele Nackenschläge abgekriegt
       hat wie Schulz und sich dennoch immer wieder aufrappelt und weitermacht,
       lässt sich von einem halben Liter Blutverlust nicht in seiner Mission
       beirren. Und die lautet: Seine Gäste mit hausgemachten
       Süßkartoffelspaghetti an einer Ingwer-Avocado-Bolognese zu bewirten, auch
       wenn es nur Journalisten sind.
       
       Schulz ist einer der liebenswürdigsten Männer auf diesem Planeten, wie wir
       merken. Doch er macht es einem nicht leicht, hinter seine Fassade zu
       schauen. Ganz im Gegenteil: Niemals gestaltete sich eine Gesprächsanbahnung
       so mühsam, nie zuvor hat die Begegnung mit einem Spitzenpolitiker unter so
       strengen Sicherheitsvorkehrungen stattgefunden. Wochenlange Verhandlungen
       mit seinem Vorzimmer gingen voraus, Zusagen und Absagen wechselten sich ab
       wie Tag und Nacht. Immer neue Bedingungen wurde an immer neue Konditionen
       geknüpft, in den letzten Stunden mussten zur Verabredung des konkreten
       Treffpunkts sogar Wegwerfhandys benutzt werden.
       
       ## Verspiegelte Sonnenbrille und Jogginganzug
       
       Am Mittag, als es endlich so weit ist, treffen wir ihn vor einem
       Straßencafé in den Outskirts von Würselen. Schulz trägt zur verspiegelten
       Sonnenbrille einen Jogginganzug und eine rotgelockte Perücke. Er winkt uns
       in einen alten Ford Transit, mit dem wir im Höchsttempo durch rapsgelbe
       Felder brausen. Zweimal müssen wir umsteigen, um eventuelle Verfolger
       abzuschütteln, zwischendurch weitere Sicherheitschecks über uns ergehen
       lassen. Dann sind wir da, betreten Schulz’ Anwesen durchs hintere Gartentor
       und seine Villa schließlich, nach einem Umweg durch die Gartenhäuschen,
       über den Kellereingang. Erst dort dürfen wir die schwarzen Stoffsäcke von
       unseren Köpfen nehmen.
       
       Oben im Wohnzimmer erwartet uns gleich eine faustdicke Überraschung: Statt
       des befürchteten Gelsenkirchener Barocks besitzt Schulz Geschmack. Die
       Einrichtung des Raums mit den riesigen Panoramafenstern ist exquisit:
       Thonet-Mobiliar, Eames-Chairs, ein Sitzball von Ikea, und über dem Kamin
       hängt neben einem repräsentativen Original von Gerhard Richter eine
       Rolex-Replik von Bebels goldener Taschenuhr. Zwanzig Jahre intensiver
       Politik mit den Großen Europas sind an Schulz nicht spurlos
       vorübergegangen.
       
       Die Begrüßung fällt dagegen gedämpft aus. „Na, na, na“, knurrt er mit einem
       abwehrenden Händewedeln, „was heißt schon ‚guter Tag‘? Wissen wir wirklich,
       was dabei herauskommt? Wir werden kämpfen, unser Bestes geben, aber was am
       Ende des Tages bleibt, das entscheidet einzig der Wähler, nicht wir
       Politiker und ganz gewiss nicht Sie Journalisten!“
       
       ## Kein Feinripp mit Eingriff
       
       Schulz ist vorsichtig geworden. Auf keinen Fall will er in den Verdacht
       geraten, noch mal irgendeinen Hype zu erzeugen. „Diese ganzen
       Vorschusslorbeeren – ‚Schulzokrator‘, ‚Schulz is God‘, ‚Die nächste
       Kanzlerin heißt Schulz‘ – stammen ja übrigens nicht von mir, sondern von
       Ihren Kollegen aus der Presse“, bemerkt er missbilligend. „Wer so eine
       Hysterie schon mal durchgemacht hat, die Beatles, die Stones oder Justin
       Bieber zum Beispiel, erwacht anderntags mit einem Brummschädel, setzt die
       Sonnenbrille auf und taucht für ein paar Monate ab.“
       
       Auf unsere Frage, was er denn die ganze Zeit gemacht habe, möchte er nicht
       direkt antworten. „Kommen Sie, ich zeige Ihnen mein Arbeitszimmer“, schlägt
       er vor. Bevor es hoch in die dritte Etage geht, müssen allerdings erneut
       die Autos gewechselt und Stoffsäcke über den Kopf gezogen werden. Dann
       stehen wir in einer Art Großraumbüro mit sechs überdimensionierten
       Schreibtischen, auf denen sich Papierstöße bis an die Decke stapeln. „Hier
       habe ich von morgens bis abends an meinem Wahlprogramm gefeilt“, sagt er
       andächtig. „Sie werden Augen machen, wenn es fertig ist. Bis dahin gilt
       aber: Psssssst…!“
       
       Nun können wir endlich ein paar Fragen stellen. Seine Lieblingsband? Die
       frühen Knorkator. Als sie noch nicht so kommerziell waren. Seine
       Lieblingshelden in der Geschichte? Attila der Hunnenkönig, Albert
       Schweitzer, Don Draper, in genau dieser Reihenfolge. Im Auftrag der
       Lieblingskollegin fragen wir auch, ob er wirklich Unterwäsche von Schiesser
       trägt, wie alle Welt mutmaßt. Schulz antwortet mit einem bitteren Lachen:
       „Das hätten Sie wohl gerne: Schulz, der Spießer, im Feinripp mit Eingriff!
       Und alle Frauenzeitschriftenkolumnistinnen beömmeln sich endlos darüber.
       Aber nein, ganz ehrlich: Ich steh auf das schicke französische Zeug von
       HOM, speziell die Boxershorts.“
       
       ## Die SPD-Basis macht nicht mit
       
       So viel zu Europa. Und seine Vision für Deutschland? Er denkt lange nach.
       „Das Hauptziel ist die Entlastung kleiner und mittlerer Einkommen zu
       Ungunsten der hohen, wenngleich – Moment?“ Er zögert ungläubig: „Da
       schneide ich mir ja ins eigene Fleisch!“ Elegant wechselt Schulz das Thema,
       indem er uns spontan zum Essen in seiner Küche einlädt, zu eigenhändig von
       ihm selbst zubereiteten Süßkartoffelspaghetti.
       
       Nach dem bereits erwähnten Zwischenfall mit dem Sparschäler übernimmt
       Gattin Inge das weitere Kochen. Sie füttert ihn auch zärtlich, als die
       Teller mit dem dampfenden Mahl schließlich vor uns stehen und Schulz auf
       seine politische Vision zurückkommt: „Ich persönlich habe eine stramm linke
       Vision von einem sozial gerechten Deutschland“, schmatzt er ernst. „Mit
       radikaler Umverteilung von oben nach unten, Bankenregulierung,
       Vermögensteuer und dem ganzen Bums. Das Problem ist nur: Das macht die
       SPD-Basis nicht mit – und die liebe Wählerschaft erst recht nicht!“
       
       Anschließend erklärt er uns stundenlang, dass die sozialdemokratische
       Kundschaft schon ewig nichts mehr mit linker Politik zu tun haben will:
       „Die SPD ist die Klientelpartei der gut verdienenden Facharbeiter, des
       öffentlichen Dienstes, derjenigen, die auf Betriebsrenten und vorgezogenen
       Ruhestand hoffen können – die finden unsere Gesellschaft gerecht genug.“
       Und was ist mit Solidarität? „Geht denen am Arsch vorbei“, empört er sich.
       „Aber was soll ich machen, ich bin nun mal deren Kanzlerkandidat und kann
       mir nicht einfach eine neue Partei wählen.“
       
       Streng fügt er hinzu: „Den Satz habe ich nie gesagt.“ Fast scheint es, als
       habe Schulz Angst vor den Wellen, die solch eine Homestory schlagen kann.
       Bittet er uns vielleicht deshalb zum Schluss, die Tonaufzeichnungen zu
       löschen und unsere Smartphones zu verbrennen? Beschwört er uns darum zum
       Abschied: „Niemand darf erfahren, dass dieses Treffen je stattgefunden
       hat“? Ist es ihm etwa peinlich, dass er sich vor uns so weit geöffnet hat?
       Bis hin zu den Fingern? Mit dem Sparschäler?
       
       Mag sein! Aber auch das entscheiden selbstverständlich die Wähler.
       
       29 May 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Mark-Stefan Tietze
       
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