# taz.de -- Trans*person an kanadischer Hochschule: Zukunftsplan Premierminister*in
       
       > Camryn Harlick wurde in die Studierendenvertretung ihrer Uni gewählt –
       > als erste Trans*person in diesem Amt.
       
 (IMG) Bild: „Bin ich ein Transmann? Aber ich hasse doch Männer!“ – Camryn Harlick
       
       Camryn Harlick hat dunkle Ringe unter den Augen. Fünf Tage hat sier bei
       sihren Eltern verbracht. „Ich war mit meinem Vater bei seiner
       Motorrad-Gang, einer von denen hatte ein riesiges Hakenkreuz an der Wand
       hängen“, erzählt Harlick leise, während sier auf den Fototermin für die
       Wahlkampagne wartet. „Alle haben mich Brittany genannt. Ich habe denen
       immer wieder gesagt, so heiße ich nicht.“
       
       Brittany ist Harlicks Geburtsname. Harlick ist transgender, fühlt sich
       weder als Mann noch als Frau und benutzt das genderneutrale Pronomen
       „they“, wofür sich im Deutschen „sier“ verwenden lässt.
       
       Als Harlick mit den ersten Probefotos an der Reihe ist, steht sier steif
       vor der Kamera. Die weiße Bluse und der schwarze Blazer wollen nicht so
       recht zu dem Glitzerstein im Nasenflügel, dem Septum-Piercing, den Tatoos
       auf dem Unterarm und den raspelkurzen, hellblau gefärbten Haaren passen.
       
       Aber sier tritt für die Präsidentschaftswahl der Studierendenvertretung
       Ryerson Student Union (RSU) an: ein Job mit 35.000 kanadischen Dollar
       Jahresgehalt, der nach Businesslook verlangt. Die Ryerson University ist
       mit 31.000 Studierenden die drittgrößte Universität von Toronto, Kanada.
       
       ## 47 Prozent einer „sichtbaren Minderheit“
       
       Harlick erzählt von sierem Wahlprogramm. Die Finanzierung ist gesichert,
       die Umsetzung bereits vorbereitet, die Formulierungen reif für die
       Pressekonferenz. Man merkt, dass sier mehrmals die Woche Interviews gibt.
       Harlick ist vor einer Woche 19 Jahre alt geworden – dier jüngste
       Präsidentschaftskandidat*in der RSU jemals.
       
       Neben sierem Kriminologiestudium an der Ryerson University hat sier zwei
       Jobs an der Uni, beide im Antidiskriminierungsbereich. Dazu zwei Stipendien
       und ein eigenes Unternehmen, das Workshops für Lehrer*innen zum Thema
       Trans* anbietet und mit dem Gewinn geschlechtsangleichende Operationen für
       Trans* Jugendliche finanziert.
       
       Harlick ist in vielen Dingen gut: Kunst, Cheerleading, Bühne-Make-up. Siere
       ganze Energie geht jedoch in sier Engagemet für queere und Trans* Menschen.
       Die Uni habe Harlick dabei sehr geholfen, erzählt sier. Im „About“-Teil der
       Website bewirbt Ryerson die Vielfalt der Studierendenschaft. Jede ethnische
       Gruppe hat ihre eigene Studierendenorganisation, die finanzielle
       Unterstützung erhält.
       
       Ein Mentoringprogramm soll sicherstellen, dass sich alle Minderheiten auf
       dem Campus willkommen fühlen. In Toronto, einer Stadt, in der die Hälfte
       der Bevölkerung nicht in Kanada geboren ist und 47 Prozent einer
       „sichtbaren Minderheit“ angehören, nutzen alle Unis soziale Gerechtigkeit
       und Vielfalt als Aushängeschild.
       
       ## Vergewaltigungsdrohungen per E-Mail
       
       Harlick ist bei der RSU für die Unterstützung von queeren Studierenden
       verantwortlich. Sier betreut offene Sprechstunden, gibt Workshops zu
       sexualisierter Gewalt in queeren Beziehungen und setzt sich für
       genderneutrale Toiletten ein. Sier organisiert Veranstaltungen gegen den
       „Blood-Ban“: Ein Gesetz, dass es Schwulen und Trans* Menschen verbietet,
       Blut zu spenden.
       
       Selbst an einer Uni, die sich Vielfalt auf die Fahnen schreibt, habe so ein
       Einsatz seinen Preis, sagt sier. Die Poster für die Veranstaltungen seien
       schon oft abgerissen worden. Harlick erhielt Mord- und
       Vergewaltigungsdrohungen per E-Mail. Siere Stimme wird leiser, als sier das
       erzählt, der professionelle Sprachfluss gerät ein wenig ins stocken.
       
       Sier bezweifelt, dass sier Team aus fünf People of Color die Wahl gewinnen
       wird. „Ich gehe zwar als weiß durch, bin aber indigen und trans*. Die
       konservativen Studierenden werden uns niemals wählen.“
       
       Vor den großen Fenstern von Harlicks WG im achten Stock funkeln die Lichter
       der Skyline. Über Harlicks Schreibtisch hängen selbstgemalte Aquarelle und
       Collagen mit eigenen Gedichten. An den Spiegel hat sier ein Gedicht von
       Dark Matter geschrieben, das mit den Worten endet: „Ich möchte weder ein
       Junge noch ein Mädchen sein, sondern ich selbst.“
       
       ## Mutter „Drogendealerin und Immobilienmaklerin“
       
       Harlick steht am Herd in der Wohnküche und erzählt wie alles anfing: mit
       einem Protest gegen Slutshaming in der Schule. Der Schulleiter hatte damals
       die weiblichen Schülerinnen ermahnt, sich nicht „schlampig“ anzuziehen.
       Einige Jungs hängten daraufhin Poster mit den nackten Beinen einer Frau
       auf, auf denen verschiedene Rocklängen eingezeichnet waren, versehen mit
       Kategorien wie „prüde“ oder „Schlampe“.
       
       Harlick forderte den Schulleiter auf, sich zu entschuldigen und die Poster
       zu verbannen. Als er sich weigerte, organisierte sier einen medienwirksamen
       Schulstreik und der Schulleiter überlegte es sich anders.
       
       Es gibt ofengebackenen Kürbis mit Tomatensoße, dazu Spinat. „Ich habe schon
       für mich selbst gekocht, bevor ich überhaupt an den Herd rankam, weil das
       zu Hause sonst niemand gemacht hat“, sagt Harlick während sier auftut.
       Dieses Rezept hat sier von einer Pflegefamilie gelernt. In wie vielen
       Pflegefamilien sier gelebt hat? Harlick starrt in die Luft und zählt an den
       Fingern. Es dauert eine Weile. Sieben.
       
       Harlick wuchs in der Kleinstadt Chatham auf, der Vater Alkoholiker, die
       Mutter „Drogendealerin und Immobilienmaklerin“. Harlick lacht. Erst als
       sier in der Schule über sexualisierte Gewalt lernt, wird sier klar, dass
       die Dinge, die zu Hause geschehen, nicht normal sind. Das Jugendamt sorgt
       dafür, dass die Mutter auszieht, Harlick wohnt allein mit dem Vater. Erst
       zwei Jahre und etliche Knochenbrüche später kommt sier von zu Hause weg,
       wohnt bei wechselnden Pflegefamilien, im Krankenhaus, auf der Straße, in
       Jungendunterkünften. Harlick zählt die Eckdaten sieres Lebenslaufs auf
       wie die Punkte im Wahlprogramm. Nur die Hand, die im Kürbis stochert,
       zittert kaum merklich.
       
       ## „They“ als Pronomen
       
       Als sier von sierer Zeit als Cheerleaderin mit falschen Wimpern und
       Studio-Fingernägeln erzählt, muss Harlick wieder grinsen, vor Freude über
       den Überraschungseffekt. Danach kam die Zeit als lesbische Butch. „In einer
       Fernsehserie gab es einen Charakter, der trans war. Ich habe mich irgendwie
       zu diesem Charakter hingezogen gefühlt. Ich dachte: Bin ich ein Transmann?
       Aber ich hasse doch Männer!“ Harlick lacht über sich selbst. An der Uni
       lernte sier zum ersten Mal andere nichtbinäre Trans*Menschen kennen. „Es
       war ein Gefühl von: Ach so! Das bin ich!“ Seitdem benutzt Harlick „they“
       als Pronomen.
       
       „Natürlich werde ich später Premierminister*in von Kanada!“, sagt Harlick
       ohne zu zögern, als es um siere Zukunftspläne geht. Sier Lachen wirkt wie
       ein Versuch, die Aussage als Scherz zu verkleiden, um nicht arrogant zu
       klingen. Die aufrechte Körperhaltung und der klare Blick lassen aber keinen
       Zweifel daran, dass Harlick es ernst meint. Wo sier die Kraft dazu her
       nimmt? Harlick zuckt die Achseln und lächelt: „Ich mag es, Stereotype zu
       brechen.“
       
       Sieben Wochen später wird Camryn Harlick zur*m Vizepräsident*in der RSU
       gewählt. Sier ist die jüngste Person, die jemals im Gewerkschaftsvorstand
       saß. Und die erste Trans* Person in diesem Amt.
       
       31 May 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Lou Zucker
       
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