# taz.de -- Alltag im Berlin der Nazis: Im Schaufenster blonde Puppen
       
       > Die Ausstellung „Berlin 1937“ zeigt Szenen einer gleichgeschalteten
       > Stadt, deren Bewohner sich der Illusion hingaben, ein ganz normales
       > Großstadtleben zu führen.
       
 (IMG) Bild: Berlin 1937: Passanten am Leipziger Platz. Dahinter das Kaufhaus Wertheim
       
       Diese Ausstellung kommt zur rechten Zeit. „Nur rund die Hälfte der jungen
       Menschen in den bevölkerungsreichsten EU-Ländern sieht die Demokratie als
       die beste Staatsform an.“ Das ist das Ergebnis der YouGov-Studie der
       TUI-Stiftung, die in der vergangenen Woche vorgestellt wurde. Zeitgleich
       öffnete im Märkischen Museum die Ausstellung „1937. Im Schatten von
       morgen“. Sie zeigt den Berliner Alltag vier Jahre nach der Machtübernahme
       der Nazis. Nicht mehr in der Hauptstadt eines demokratischen Landes lebten
       die Berlinerinnen und Berliner, sondern im politischen Machtzentrum der
       Diktatur. Doch die Stadt war vielerorts noch die gleiche.
       
       1937 ist das Jahr, das manche aus dem Schulatlas kennen: „Deutschland in
       den Grenzen von 1937“, also vor der Besetzung Österreichs und des
       „Sudetenlandes“ in der Tschechoslowakei. 1937 ist „das Jahr davor“, vor dem
       Beginn der nationalsozialistischen Expansion 1938 und vor dem Zweiten
       Weltkrieg ein Jahr später.
       
       Es ist ein Jahr der „trügerischen Ruhe“, wie es der Direktor der Stiftung
       Stadtmuseum, Paul Spies, sagt. Was haben vier Jahre Diktatur aus der Stadt
       gemacht? Was ist geblieben, was hat sich verändert? Und ist schon
       erkennbar, was passieren wird? Fragen wie diese haben Spies und seinen
       Kurator Gernot Schaulinski umgetrieben. Die Ausstellung, die das
       Alltagsleben 1937 am Beispiel von 50 Objekten und anhand zahlreicher Fotos
       und Filmausschnitte erzählt, ist das Gegenteil dessen, was man von einer
       pädagogischen Schau unter dem Titel „Berlin unterm Hakenkreuz“ hätte
       erwarten können.
       
       Zunächst einmal ist dieser Alltag erschreckend banal, wie etwa das
       Familienalbum eines unbekannten Fotografen zeigt. Unter dem Datum 24.
       Oktober 1937 notierte er: „Im Volkspark, unser Häuschen, letzte Rosen.“
       Gleich daneben ist ein Foto mit dem Konterfei Adolf Hitlers eingeklebt:
       „22.10.1937. Der Führer“.
       
       Beispiele dafür, wie sich die Diktatur langsam ins öffentliche wie private
       Leben eingeschlichen hat, gibt es viele, im Privaten, im öffentlichen
       Straßenraum, in den Fabriken. Entsprechend lauten die thematischen Kapitel
       der nicht chronologischen Ausstellung „Stadtbilder“, „Lebensbereiche“,
       „Schauflächen“, „Angsträume“ und „Geschichtsfelder“. Sieht man einmal vom
       vermehrten Auftreten von Uniformierten wie Angehörigen der SA ab, hat sich
       im Stadtbild nur wenig geändert. Berlin ist die lebendige, hektische
       Großstadt geblieben, die sie vor 1933 war, die S-Bahnen rollen unentwegt,
       die Schaufenster sind üppig dekoriert.
       
       Doch Werbeplakate mit rauchenden Frauen, ein Symbol der glorreichen
       Zwanziger, sind bereits verschwunden. In den Schaufenstern von Hertie am
       Leipziger Platz ist bei der Deko noch der Stil der Moderne der Zwanziger
       erkennbar, doch die beiden Schaufensterpuppen, die „die schöne Winterfarbe
       Grün“ preisen, entsprechen dem nationalsozialistischen Frauenbild – blond,
       schlank, hochgewachsen, adrett gekleidet.
       
       Weil ein Großteil der Devisen bereits in die Rüstungsproduktion gesteckt
       wurde, oblag der Werbung zudem die Aufgabe, das Publikum auf
       „Ersatzprodukte“ auf Basis einheimischer, also nicht importierter Rohstoffe
       einzuschwören. Bei Hertie am Leipziger Platz war das etwa Kunstseide, ein
       Zellulosederivat aus einheimischem Holz, die sich bis dahin keiner allzu
       großen Beliebtheit erfreut hatte. Es ist bereits der Mangel, der hier
       durchschimmert – allerdings hübsch dekoriert.
       
       Auch im Theater und im Kino waren die Veränderungen sichtbar, auch wenn es
       am Kurfürstendamm nach wie vor amerikanische Filme zu sehen gab.
       „Spezifisch nationalsozialistisch war weniger, was die Zuschauer zu sehen
       und zu hören bekamen, als das, was sie nicht präsentiert bekamen“, heißt es
       auf einer Informationstafel. „Verschwunden war die künstlerische
       Auseinandersetzung mit der Stadt, den gesellschaftlichen Verhältnissen und
       der Politik generell.“ Die Nazis hatten Berlin, die ihnen so verhasste
       Großstadt, domestiziert. Es war Ordnung eingekehrt in den angeblichen
       „Moloch“. Ist es diese Ordnung, die heute auch so viele junge Menschen von
       nichtdemokratischen, autoritären Regierungsformen und Politikern erwarten?
       
       Geordnet war auch die Medienlandschaft. Zwar stapelten sich in den Kiosken
       Zeitungen und Zeitschriften. Doch die publizistische Vielfalt im Berliner
       Blätterwald, einst geprägt von Tageszeitungen wie dem Berliner Tageblatt,
       war passé. Große Aufmerksamkeit schenkten die Nazis dem Radio. Schon 1933
       waren 100.000 „Volksempfänger“ VE 301 verkauft worden, das Radio war zum
       Propagandainstrument geworden. Aber auch zur Gefahr für die Machthaber.
       Eines der 50 Objekte zeigt einen sogenannten Steilflanken-Sperrkreis für
       Volksempfänger, mit dem es – quasi als Beifang – auch möglich war,
       ausländische Sender zu empfangen. Ein gefährliches Unterfangen, denn das
       Hören von „Feindsendern“ stellte „Hochverrat“ dar und wurde zuweilen mit
       der Todesstrafe geahndet. Kaum möglich, vor dem Hintergrund aktueller
       Ereignisse an dieser Stelle nicht an Länder wie die Türkei zu denken, in
       denen Journalismus immer wieder mit Terrorismus gleichgesetzt wird.
       
       Der einzige Ort des offenen Disputs war, auch befeuert vom Alkoholkonsum,
       die Kneipe. Ein Gemälde von Otto Nagel zeigt eine Wirtshausszene. Der
       sozialkritische Maler war im April 1937 gerade aus dem KZ Sachsenhausen
       freigelassen worden. Zur gleichen Zeit entfachte die NSDAP eine
       Propaganda-Kampagne gegen den Alkohol. „Nicht mehr der korpulente
       Bierphilister, sondern der schlanke, ranke Junge ist das Vorbild unserer
       Zeit“, mahnte Adolf Hitler – und ordnete 1937 den Bau von
       Hitlerjugend-Heimen als Ersatz für das Wirtshaus und die Eckkneipe an. Noch
       war die soziale Kontrolle nicht alleine repressiv, sondern beinhaltete auch
       Angebote, selbst wenn die meisten der geplanten Heime am Ende nicht gebaut
       wurden.
       
       Hatten die Nazis das ehedem „rote Berlin“ 1937 nur gebändigt oder schon
       paralysiert und besiegt?
       
       Über weite Teile zeigt „1937“ Szenen aus einer gleichgeschalteten Stadt,
       deren Bewohnerinnen und Bewohner aber, so hat es den Eindruck, sich selbst
       der Illusion hingeben wollten, ein normales Großstadtleben zu führen. Man
       ging aus, man ging ins Stadion, erholte sich in Parks, traf sich mit
       Freunden. Und vermied den Blick auf diejenigen, die nicht mehr dazu
       gehörten.
       
       Andere dagegen arbeiteten schon an deren Verfolgung. Nach der
       Verabschiedung der Nürnberger Rassengesetze 1935 galt Sex mit Jüdinnen und
       Juden als Rassenschande. Das antisemitische Hetzblatt Der Stürmer blies zur
       Jagd auf all jene, die sich diese Schande schuldig gemacht haben sollten –
       und fand dabei auch neue Vertriebswege. Ein seltenes Exponat ist der so
       genannte „Stürmerkasten“, auf dem die Hassseiten des Stürmer öffentlich
       ausgestellt wurden – eine Art Facebook der dreißiger Jahre.
       
       Wie werden die Besucher auf eine Ausstellung reagieren, in der es keinen
       pädagogischen Zeigefinger gibt, umso mehr dagegen irritierende Zeichen?
       Etwa auf der Tastatur einer Schreibmaschine der „Europa Schreibmaschinen
       AG“, auf der sich über der „5“ eine SS-Rune befindet?
       
       Am Ende der Ausstellung steht der Besucher vor einem überdimensionierten
       Bildschirm. Er blickt noch einmal auf die Fotos und Alltagsszenen, die er
       bereits zuvor gesehen hat. Während die Fotos wechseln, sieht er in einen
       Spiegel – und damit sich selbst. Wann hat es angefangen? Wann fängt es an?
       Bislang werden in Deutschland Vergleiche mit der Nazizeit tabuisiert. Hier
       gehören sie implizit dazu.
       
       Und wer an dieser Stelle immer noch vom starken Mann träumt, weiß: Ach
       Jahre später lag das vermeintlich normale Großstadtleben unter Trümmern
       begraben.
       
       8 May 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Uwe Rada
       
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