# taz.de -- The Jesus And Mary Chain auf Tour: Rock ‚n‘ Roll ist gehirnamputiert
       
       > Die Rüpelrocker The Jesus And Mary Chain gehen mit ihrem Album „Damage
       > and Joy“ und ihren rückkoppelnden Verstärkern auf Tour.
       
 (IMG) Bild: Gut laut und streitlustig: die Gebrüder Reid alias The Jesus And Mary Chain
       
       Hin und wieder passiert das Unerwartbare, und Rock ’n’ Roll wird sexy. Dazu
       bedarf es einer Mischung aus totaler Hingabe und Punkattitüde. So lief es
       jedenfalls bei den Garagen-Rockbands Anfang der nuller Jahre: „I gave my
       soul to a new religion, I gave my heart to a simple cause“ (Black Rebel
       Motorcycle Club, „Whatever happened to my Rock ’n’ Roll“). Wichtigste
       Quelle der Inspiration, die all diese jungen, hippen Bands von the Strokes
       bis Bloc Party befeuerte, findet sich in Schottland zu einem Zeitpunkt, als
       Rock ’n’ Roll plötzlich so cool wurde wie Trockeneis: East Kilbride 1983.
       
       Mitten in der britischen Synthiepop-Welle verschreiben sich die Brüder Jim
       und William Reid den lauten Gitarren und gründen The Jesus And Mary Chain.
       William Reid komponiert perfekte dreiminütige Popsongs, die aus nicht mehr
       bestehen als ein paar Gitarrenriffs: maximaler Effekt mit einfachsten
       Mitteln. Dazu ein Standschlagzeug mit zwei Trommeln, der Bass wird statt
       mit vier nur mit drei, manchmal sogar nur mit zwei Saiten gespielt. Aber
       alles mit einem eigenartigen Twist.
       
       Das wichtigste Instrument dieser Band: ohrenbetäubendes Feedback. The Jesus
       And Mary Chain kreieren damit eine Wall of Noise, die der Musik klirrende
       Dichte gibt. Darauf singt Jim Reid schöne Melodien, ohne sich – Gott
       bewahre! – anstrengen zu müssen. Vor allem durch diesen Kontrast bekommen
       JAMC-Songs – wie ihr größter Hit „Just Like Honey“– etwas magisch
       Psychedelisches, das auch heute noch wirkt.
       
       ## Verstecken unter Frisuren
       
       Ein praktischer Vorteil eines solchen Feedbacks ist auch, dass es sich fast
       von allein spielt und die Band dabei Zeit hat, gelangweilt zu wirken und
       sich unter großen Frisuren zu verstecken. Das ist die Welt von dunklen
       Sonnenbrillen und Lederjacken, aber vor einem Pastellhintergrund, genauso
       wirkt die Ästhetik von „Psychocandy“, ihrem 1985 erschienenen Debütalbum.
       Ob Candy nun wirklich die Droge ihrer Wahl war oder doch Mary-Jane, das im
       cleveren Wortspiel des Bandnamens steckt – auf alle Fälle ist die Devise
       „Don’t come Down“ („The Sound of Speed“, 1993).
       
       Dementsprechend dauern die Auftritte der ersten Jahre nie länger als 30
       Minuten, die pure Dröhnung, irre laut, irre chaotisch, irre aggro. Der
       Sound ist so dicht wie The Jesus and Mary Chain bei ihrem ersten Berliner
       Konzert im Loft 1984: Das Feedback hat bis auf drei Fans alle aus dem Raum
       getrieben, was William Reid nicht daran hindert, vor dem Verstärker
       wegzunicken. Die drei vor der Bühne schließen Wetten ab, wann der noch
       stehende Schlagzeuger umfallen würde (was er nicht tut), und sind sich
       sicher: das nächste große Ding. Eine Woche später sind JAMC auf dem Cover
       des NME, ihr Berliner Konzert im Jahr darauf ist ausverkauft: Es dauert
       gerade 20 Minuten.
       
       Der Name des Schlagzeugers? Bobby Gillespie, der spätere Rock-’n’-Rave-Gott
       von Primal Scream. Bei einem Konzert im Londoner Electric Ballroom macht
       der sonst scheue, aber betrunkene Jim Reid das Publikum an, und als nach
       den 20 Minuten großartigem Lärm die Band einfach verschwindet, gehen die
       Zuschauer richtig auf die Barrikaden.
       
       ## Glücklich vereint
       
       Das Krawall-Image wird dann zur Achterbahnfahrt („I Hate Rock ’n’ Roll“,
       1995, „I love Rock ’n’ Roll“ und „I Hate Rock ’n’ Roll“: „Munki“, 1998),
       nach sechs Alben und etlichen Fastauflösungen (die Neunziger waren die
       Hölle, sagt Jim) trennen sich die beiden im Streit. Erst 2007 versöhnen
       sich The Jesus And Mary Chain und gehen jetzt mit dem ersten Album nach 19
       Jahren Pause auf Tour. Die Brüder/Band-Konstellation führt weiterhin zu
       Zwistigkeiten. Und – wer hätte es gedacht? – „Damage and Joy“ beginnt
       gleich wieder mit einem Break-up-Song: „I’m a rock ’n’ roll amputation“,
       singt Jim Reid. Egal wer wen amputiert hat, mit dem Rock ’n’ Roll sind die
       beiden nach 34 Jahren wieder glücklich vereint.
       
       Einige ihrer Popsongs klingen wieder perfekt und verdrehen einem auch den
       Kopf. Der Sound ist allerdings gefälliger als früher, Feedback kommt nur
       als Zitat vor. Nüchtern schaut man heute der Welt ins Auge: Liebe ist das
       neue High („The Two of Us“), der Bruderhass hat „Ist halt so“-Status
       erreicht („Facing Up to the Facts“), und endlich wissen wir, wer Kurt
       Cobain erschossen hat („Simian Split“).
       
       2017-spezifisch ist das Werk nur in dem Sinn, dass alles zurückkommt: Alan
       McGee, der schon 1983 in den Bann von The Jesus And Mary Chain geriet und
       sie auf seinem inzwischen legendären Creation-Label veröffentlichte, ist
       wieder ihr Manager. Vielleicht hätten sich JAMC mit dem Album besser an die
       30-Minuten-Marke ihrer frühen Konzerte gehalten. Dass sie das auch auf der
       nun bevorstehenden Tour tunlichst unterlassen werden, dürfte beim Publikum
       aber kaum auf Kritik stoßen.
       
       19 Apr 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Monika Dietl
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schottland
 (DIR) Schottland
 (DIR) Pop
 (DIR) Punk
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Sänger von The Jesus & Mary Chain: „Entweder Trauma oder Aufruhr“
       
       Die schottischen Indierock-Ikonen The Jesus & Mary Chain veröffentlichen
       ihr neues Album „Glasgow Eyes“. Sänger Jim Reid über Schottland und
       Saalschlachten.
       
 (DIR) Biografie über Britband TV Personalities: Der Wäschebote mit heimlichen Hits
       
       „Dreamworld“ von Benjamin Berton ist eine ergreifende Biografie der
       britischen Band Television Personalities und ihres tragischen Helden Dan
       Treacy.
       
 (DIR) Happy Birthday, Monika Döring: Die Szeneveteranin
       
       Musikalisch bewegt von den Neubauten bis Goa-Trance: Die
       „Veranstalterlegende“ und Loft-Macherin Monika Döring feiert am Sonntag
       ihren 80.
       
 (DIR) Punkband The Fall in Berlin: Aufhören? Niemals!
       
       Nicht mehr ganz so punkig, nicht mehr ganz so scharf, aber dafür mit Nähe
       zum Publikum: The Fall ist älter geworden, aber nicht weniger sarkastisch.