# taz.de -- Nach dem Referendum in der Türkei: Noch wollen viele es nicht wahrhaben
       
       > Hoffnungsvoll, geschockt, frustriert – oder voller Siegesfreude: Das
       > Referendum bestätigt die tiefe Spaltung der Türkei.
       
 (IMG) Bild: Aufräumen nach dem Referendum
       
       ISTANBUL taz | Die Normalität am Tag danach wirkt geradezu gespenstisch.
       Als wäre am [1][Sonntag nicht gerade eine historische Entscheidung
       gefallen], gehen die Leute zur Arbeit. Sie öffnen ihre Läden, singen die
       Nationalhymne in der Schule und füllen die Restaurants und Cafés wie an
       jedem Tag.
       
       Auch in Kadıköy, einer Hochburg der säkularen Gegner von Präsident Recep
       Tayyip Erdoğan in Istanbul, ist alles wie immer. Noch in der Nacht waren
       wütende Wähler und Wählerinnen hier auf die Straße gegangen und hatten laut
       auf Kochtöpfe schlagend gegen den Wahlbetrug protestiert. Doch davon ist am
       Montagmittag nichts mehr zu spüren.
       
       Im Gegenteil, auch die öffentliche Symbolik scheint noch auf Kontinuität
       statt auf Bruch zu setzen. Auf dem Hauptplatz von Kadıköy bauen Arbeiter
       gerade die Stände für eine Ausstellung über traditionelle türkische
       Handwerkskunst auf, die in wenigen Tagen eröffnet werden soll.
       
       Auf die Holzpalisaden rund um die Ausstellung tackern Arbeiter munter große
       Porträts des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk – als wäre nicht just die
       Republik Atatürks wenige Stunden zuvor abgewählt worden. Ein
       vorbeikommender älterer Mann streicht geradezu zärtlich über eines der
       Porträts, vielleicht Routine oder doch bereits ein Abschiedsgruß?
       
       ## Was genau ist da passiert?
       
       Viele in Kadıköy wollen an diesem ersten Tag von Erdoğans neuer Republik
       noch gar nicht wahrhaben, was da gerade passiert ist. Der Wirt einer
       Bierbar, der sich eigentlich ernsthaft Sorgen um seine Zukunft machen
       sollte, gibt sich ganz gelassen. „Wir warten erst einmal ab“, sagt er.
       „Vielleicht ist Erdoğan nach diesem knappen Ergebnis doch versöhnlich
       gestimmt und lässt ein paar Leute aus dem Gefängnis. Er kann aber natürlich
       auch gerade im Gegenteil die Repressionsschraube noch anziehen.“ Alles ist
       möglich.
       
       Diese Gelassenheit entspringt dem Gefühl, eigentlich nicht verloren zu
       haben. Typisch dafür ist Zafer Titiz, ein pensionierter Zahnarzt, der
       zwischen Deutschland und der Türkei pendelt. Er hat am Ort seines
       Sommerhauses auf den Prinzeninseln vor Istanbul abgestimmt. „Dieses überaus
       knappe Ergebnis“ meint er, „gibt Erdoğan doch nicht die Möglichkeit, jetzt
       zu behaupten, er wäre der Alleinherrscher. Er wird Kompromisse machen
       müssen.“
       
       Zafer Titiz hat in Deutschland die sozialdemokratischen HDF-Vereine
       mitgegründet, die mit der sozialdemokratisch-kemalistischen Partei (CHP) in
       der Türkei kooperieren. Der Zahnarzt ist mit dem Auftritt von Kemal
       Kılıçdaroğlu, dem CHP-Chef und Oppositionsführer im Parlament, eigentlich
       ganz zufrieden: „Er hat toll gekämpft und trotz aller Benachteiligungen und
       Manipulationen doch ein beachtliches Ergebnis erzielt.“
       
       Noch in der Nacht hatte der CHP-Politiker erklärt, er wolle gegen
       verschiedene Manipulationen bei der Wahl Einspruch erheben. Insbesondere
       seien Millionen von nicht korrekt gekennzeichneten Wahlunterlagen verwendet
       worden, die die Differenz von 1,3 Millionen Stimmen, mit denen Erdoğan
       gewonnen hat, erklären könnten. Viele in der Türkei teilen seine Sicht, für
       Montagabend sind daher wieder Demonstrationen angekündigt. Allerdings hat
       der Chef der Wahlkommission, Richter Sadi Güven, die Manipulationsvorwürfe
       bereits am Montagmittag zurückgewiesen. Gegenüber der staatlichen
       Nachrichtenagentur Anadolu sagt er: „Die Wahlunterlagen waren völlig
       korrekt und so von uns in Auftrag gegeben.“
       
       ## Protest gegen die Wahlfälschungen
       
       Für die Anhänger Erdoğans spielen solche Vorwürfe sowieso keine Rolle mehr.
       Sie genießen ihren Sieg. Noch in der Nacht, als in den drei Istanbuler
       Bezirken Kadıköy, Beyoğlu und Beşiktaş– Hochburgen der Erdoğan-Gegner –
       gegen Wahlfälschungen protestiert wurde, versammelten sie sich vor einem
       der vielen Paläste des Staatspräsidenten am Bosporus. Dort, außerhalb der
       Stadt, wo Präsident Erdoğan die Wahlnacht verbrachte, huldigten sie
       lautstark ihrem Führer.
       
       Nachdem Erdoğan zunächst bei einem Fernsehauftritt das Wahlergebnis sehr
       staatstragend kommentiert hat, hält er eine Stunde später vom Balkon des
       Palastes eine ganz andere Rede. Darin kündigt er den Beginn der neuen Zeit
       an und stellt schon einmal die Einführung der Todesstrafe in Aussicht.
       
       Erdoğan selbst und die ihm ergebenen Medien tun so, als hätte ihr Idol die
       Wahl mit großer Mehrheit gewonnen. Die Zeitungen drucken Fotos, die
       aussehen, als hätte die Türkei die Fußballweltmeisterschaft gewonnen – so
       ausgelassen tanzen die Menschen auf der Straße.
       
       „Tatsächlich“, sagt Mustafa M., ein Aktivist der kurdisch-linken HDP, „hat
       er die Wahl doch verloren.“ Statt 61 Prozent, die die beiden Parteien AKP
       und MHP, die jetzt das Referendum unterstützt haben, bei der letzten Wahl
       erzielten, hat er gerade mal 51 Prozent geholt, also 10 Prozent verloren.
       Der HDP-Aktivist: „Das ist doch kein Ergebnis, mit dem sich ein radikaler
       Systemwechsel wie die Abschaffung der parlamentarischen Demokratie
       rechtfertigen lässt. Wir werden jedenfalls jetzt nicht aufgeben.“ Die
       Resultate in den kurdischen Gebieten geben ihm recht. Erdoğan hat hier mit
       großer Mehrheit verloren.
       
       ## Klare regionale Spaltung
       
       Ein Blick auf die politische Landkarte der Türkei zeigt, dass die Spaltung
       der Bevölkerung nicht nur ethnische, sondern auch ganz klar regionale Züge
       trägt: Wie erwartet haben die kurdischen Provinzen im Südosten der Türkei
       Erdoğans Präsidialsystem klar abgelehnt.
       
       Nicht zu erwarten war dagegen, dass – bis auf eine einzige Ausnahme – auch
       alle großen Städte des Landes dagegen votiert haben. Nicht nur die drei
       Metropolen Istanbul, Ankara und Izmir, auch Adana, Antalya und Mersin haben
       mit Nein gestimmt. Die gesamte entwickelte Türkei entlang des Marmarameers,
       an der Ägäis und an der Mittelmeerküste lehnt Erdoğans Führerdiktatur
       teilweise mit über 70 Prozent ab.
       
       Mit ähnlich hohen Zustimmungsraten haben dagegen die unterentwickelte
       [2][anatolische Provinz und die Schwarzmeerküste für Erdoğan gestimmt].
       
       Diese Spaltung, die sich schon bei vorangegangenen Wahlen angedeutet hat,
       ist jetzt manifest geworden. Es gibt einen modernen säkularen Teil, einen
       islamisch-konservativen Teil und die kurdischen Provinzen. Gewonnen hat
       Erdoğan lediglich im islamisch-konservativen Anatolien und bei den Wählern
       im europäischen Ausland, vor allem in Deutschland.
       
       „Anatolien übernimmt nun endgültig die Macht im Land“, meint deshalb ein
       Istanbuler Intellektueller, der eines der besten Antiquariate in der Stadt
       betreibt. „Meine Kunden werden verschwinden“, befürchtet er. „Istanbul wird
       sich weiter zum Schlechten verändern.“
       
       „Offen gesagt“, meint der Antiquar, „ich kann mich nicht erinnern, schon
       einmal so frustriert gewesen zu sein wie heute.“
       
       17 Apr 2017
       
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