# taz.de -- Nach der Wahrheit: Die postfaktische Türkei
       
       > Mehr als nur politische Rhetorik: Die türkische Regierung betreibt mit
       > Hilfe der Medien eine Politik, die sich um Fakten nicht mehr schert.
       
 (IMG) Bild: Die türkische Politik hat den Boden der Realität längst verlassen.
       
       Weltweit wurde erst mit der Brexit-Kampagne und dem
       US-Präsidentschaftswahlkampf der Begriff des „Postfaktischen“ populär – er
       bezeichnet eine politische Rhetorik, die statt Fakten auf Emotionen setzt.
       Die populistische Regierung in der Türkei verfolgt indessen diese
       postfaktische Politik schon seit langem.
       
       Unter normalen Umständen wäre zu erwarten, dass eine international
       vereinsamte Regierung mit himmelschreiender Korruption, bei der sowohl in
       Sachen Wirtschaft wie auch bei den Menschenrechten sämtliche Alarmglocken
       schrillen, bei den ersten Wahlen abgesetzt wird. Doch die Umstände sind
       leider nicht normal.
       
       Der politischen Geschichte der Türkei sind Skandale und Krisen nicht fremd.
       Wahlen wurden meist vorgezogen, nach der Macht griffen nicht nur
       Oppositionsparteien, sondern mitunter auch Militärregime. Früher oder
       später aber tat die Bevölkerung an der Wahlurne ihre Meinung dazu kund und
       setzte vor allem jene ab, die ihnen in die Taschen griffen.
       
       In den letzten Jahren jedoch wechselte die Regierung nicht, obwohl Skandale
       und Krisen expandierten. Noch immer ist die von Erdoğan als Premierminister
       und nunmehr Staatspräsident de facto geführte Partei Nummer eins. Die
       Führerschaft der AKP aber ist dermaßen strukturell bedingt, dass sie nicht
       allein mit dem Wählerverhalten zu erklären ist. In Ermangelung einer freien
       Presse, die Fakten verbreitet, und einer unabhängigen Justiz, deren Urteile
       umgesetzt werden, erleben wir die Evolution eines Landes von der Demokratie
       zur Diktatur.
       
       ## Verstrickungen zwischen Politik und Medien
       
       2008 wurde das größte Unternehmen der Mainstream-Medien nach seiner Pleite
       per staatlicher Ausschreibung der Çalık-Gruppe zugeschanzt. Çalık, ein
       Konglomerat aus Unternehmen der Geschäftsbereiche Bau, Energie, Finanzen,
       Textilien, Logistik und Medien, dessen Geschäftsführer Erdoğans
       Schwiegersohn Berat Albayrak ist, finanzierte diesen Einkauf mit Krediten
       von staatlichen Banken.
       
       Mit dieser Direktintervention sicherte sich Erdoğans
       Ein-Parteien-Herrschaft auch Einstimmigkeit in den Medien. Je stärker
       Medienunternehmer Kritik an der Regierung eindämmten, desto mehr wurden sie
       bei großen öffentlichen Ausschreibungen beispielsweise im Energie- und
       Bausektor belohnt.
       
       Journalisten, die der Regierung nicht genehme Berichte schrieben,
       Kolumnisten, die ihre Politik kritisierten, und Chefredakteure, die sich
       ihren Bossen widersetzten, wurden der Reihe nach entlassen. Deshalb werden
       die regierungsnahen Medien in der Türkei auch als „Pool-Medien“ bezeichnet.
       
       Was aber ist es, das als Gegenleistung für eine gewonnene Ausschreibung
       verschleiert wird?
       
       ## Verschleierungstaktiken
       
       Ende 2013 deckte eine Gruppe Staatsanwälte ein Korruptionsgeflecht auf, in
       das regierungsnahe Geschäftsleute und Minister verwickelt waren. Trotz der
       bei Hausdurchsuchungen der Festgenommenen gefundenen Millionen Dollar
       Schwarzgeld konzentrierte sich der damalige Premier Erdoğan lieber auf die
       Intervention in die Justiz: Er suspendierte die Staatsanwälte, die einst
       mit Sondervollmachten ausgestattet worden waren, um Oppositionelle zu
       inhaftieren.
       
       Die regierungstreuen Medien ließen die Korruptionsvorwürfe auf sich beruhen
       und berichteten stattdessen über Verbindungen dieser Staatsanwälte zur
       Gülen-Bewegung. Als die im Zuge der Ermittlungen aufgezeichneten
       Telefonmitschnitte im Februar 2014 über YouTube an die Öffentlichkeit
       drangen, war der gesetzliche Weg längst versperrt. Dennoch wurde vor den
       Regionalwahlen im März zwei Wochen lang der Zugang zu YouTube und Twitter
       gesperrt.
       
       Auf diese Weise gewann die AKP die Regionalwahlen. Damit hatte sie nicht
       nur Bürgermeisterposten bekommen, sondern zugleich gezeigt, dass sie
       imstande war, die gesetzlichen und politischen Konsequenzen von Korruption
       zu blockieren. Bei den im selben Jahr erstmals abgehaltenen Direktwahlen
       für den Staatspräsidenten brachte dieser Triumph Erdoğan die Position des
       absoluten Herrschers ein.
       
       ## Welche Rolle spielen die Mainstream-Medien?
       
       Nun konnten die Mainstream-Medien die Regierung selbst bei gravierendsten
       Problemen nicht mehr zur Verantwortung ziehen. Die Pool-Medien waren in
       Kriegsgeschrei ausgebrochen, als Erdoğan Assad stürzen wollte und an der
       Grenze zu Syrien ein russischer Jet abgeschossen wurde.
       
       Als Ankara sich später bei Russland entschuldigte und das Assad-Regime
       anerkannte, rühmten sie Erdoğan als Architekten des Friedens. Die
       Regierungsschreiber, die 2015 das Übereinkommen mit den Kurden als größten
       Schritt zum sozialen Frieden beschrieben hatten, unterstützen heute die
       Militäroperationen und erklären die kurdische Oppositionspartei HDP zur
       Terrororganisation.
       
       Bei 35 Terroranschlägen innerhalb der letzten anderthalb Jahre kamen über
       400 Zivilisten ums Leben, bei „Anti-Terror-Einsätzen“ im Südosten starben
       über 300 Zivilisten. Städte wurden zerstört, 350.000 Menschen vertrieben.
       Doch kein einziger Minister oder hochrangiger Beamter musste wegen der
       Versäumnisse in Sachen Sicherheit und Geheimdienst seinen Hut nehmen. Denn
       den Pool-Medien zufolge steckt die CIA hinter den Anschlägen, und die
       Mehrheit der Bevölkerung sieht in den USA den Verantwortlichen für die
       Terroranschläge.
       
       Der Putschversuch vom 15. Juli gab der Regierung schließlich neue
       Repressionsinstrumente an die Hand. Die Verhängung des Ausnahmezustands
       schadete vor allem der Zivilgesellschaft und den unabhängigen Medien. Nach
       dem Putsch wurden 178 Medieneinrichtungen und 1.425 Vereine und
       Organisationen geschlossen. Bislang 145 Journalisten wurden hinter Gitter
       gebracht, 60 zur Fahndung ausgeschrieben. Nach jedem Sprengstoffanschlag
       werden Nachrichtensperren verhängt und die sozialen Medien zensiert.
       Mittlerweile ist es in der Türkei unmöglich, Fragen zu stellen oder zu
       protestieren.
       
       ## Postfaktischer Regierungsstil
       
       Die Realität, zu der all die Repression führte, ist düster: Während seit
       letzter Woche über die Verfassungsänderungen beraten wird, die Erdoğan mit
       den Kompetenzen eines Superpräsidenten ausstatten sollen, sitzen elf
       HDP-Abgeordnete, darunter ihre Ko-Vorsitzenden, im Gefängnis.
       
       In der Hauptstadt Ankara wurde für einen Monat ein Kundgebungsverbot
       verhängt und kein Fernsehsender, auch nicht die staatliche TRT, berichtet
       live von den Debatten im Parlament. Stattdessen wird die Meinung lanciert,
       die neue Verfassung löse sämtliche Probleme im Land, vom Terror bis zur
       Wirtschaftskrise.
       
       Die Eliminierung der Fakten aus den politischen Debatten ist kein Diskurs,
       es ist ein Regierungsstil. Der Regierungsstil der postfaktischen Türkei.
       
       Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe
       
       18 Jan 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Efe Kerem Sözeri
       
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