# taz.de -- Debatte Wahlkampf 2017: Tipps für Herrn Sch.
       
       > Das Programm für alle, die „auf Sieg spielen“ oder exklusive Fake News?
       > Eine Dokumentation der neuen SPD-Wahlkampftaktik.
       
 (IMG) Bild: Was hätte Willy Brandt getan?
       
       Vor mir liegt ein graues Papier. Es trägt keinen Briefkopf und keine
       Unterschrift. Die Vorstellung, dass es im Willy-Brandt-Haus verfasst wurde,
       erscheint mir wenig wahrscheinlich. Aber vielleicht wollte es ja jemand
       dort abgeben? Im Folgenden die Kernpunkte: 
       
       Newcomerappeal und die Homestory des abgestürzten und wieder aufgestandenen
       Kerls von unten, wolkige Wörter (Würde, Gerechtigkeit) und eine plakative,
       aber fiskalisch wenig verpflichtende Distanzierung von Hartz IV haben Sch.
       zu erstaunlichen demoskopischen Anfangsgewinnen geführt.
       
       Potenzielle Wähler der SPD verspüren nicht nur eine Gerechtigkeitslücke,
       sondern ebenso stark Unbehagen über eine Politik der kleinen Räder
       angesichts großer Probleme und einen Wunsch nach genuin
       sozialdemokratischen Reformen. Wo die SPD solche nicht anbietet, wählt man
       die „regierende Sozialdemokratie“ – das hat die Wahl an der Saar gezeigt.
       
       Die rhetorischen Motive Gerechtigkeit und Würde dürften in wenigen Wochen
       medial abgenutzt sein. Auch wenn die Konkurrenz auf Konkretionen drängt,
       sollte Sch. aber keinesfalls jetzt schon mit detaillierten Programmpunkten
       reagieren. Sie würden bis zum Sommer diskursiv zerrieben werden.
       
       Für die nächste Phase empfehlen wir daher – auch wenn das gegen alle
       Wahlkampftraditionen geht – eine zupackende, illusionslose Analyse diverser
       Krisenphänomene. Die erwartbare Kritik, Sch. rede das Land schlecht, sollte
       er präventiv kontern mit dem Leitmotiv: „Sozialdemokraten stehen für
       Gerechtigkeit und Würde, vor allem aber sagen sie euch die Wahrheit über
       unsere Situation“ – immer mit dem Subtext: „Anders als zahlreiche Medien
       und Politiker glauben, haben viele Bürger die Lage längst begriffen.“
       
       Sch. sollte an Orten, die symptomatisch für strukturelle Probleme mit
       existenzieller Bedeutung sind, nicht nur kurze Interviews oder Fototermine
       abhalten, sondern mit anspruchsvollen, empirisch fundierten und nichts
       beschönigenden Problemanalysen die Medien über den Frühsommer hinweg
       beschäftigen. Zu denken wäre hier insbesondere an Besuche von Institutionen
       wie Pflegeheime, Problemschulen, Betriebe, die gerade entlassen; an
       Autobahnbaustellen (drohende Privatisierung!), Polizeireviere etc; auch an
       die Teilnahme etwa an Demonstrationen gegen Gentrifizierung.
       
       ## Strukturelle Reformen
       
       Wichtig ist, dass die Analysen in die Propagierung einleuchtender
       struktureller Reformen mündet. Zu denken wäre dabei beispielsweise:
       
       a) an den Aufbau einer allgemeinen Bürgerversicherung für Renten und
       Gesundheit, in die alle Bürger mit progressiven Tarifen einbezogen sind,
       weil diese Systeme in einer alternden Gesellschaft mit zunehmend prekären
       Beschäftigungsverhältnissen anders nicht mehr finanzierbar sind und die
       bestehenden Systeme klassenspezifisch diskriminieren („wer arm ist, stirbt
       zehn Jahre früher“);
       
       b) an eine drastische Verbesserung des Personalschlüssels in den Heimen,
       weil der Pflegenotstand in den nächsten zehn Jahren dramatisch steigen wird
       und die Familien jetzt schon überfordert sind (was bei den noch Aktiven
       Angst auslöst). Die Pflege-Industrie muss stärker reguliert werden;
       eventuell könnte Sch. gar ein obligatorisches Sozialjahr vorschlagen (eine
       erstaunlicherweise populäre Forderung);
       
       c) an ein Verbot weiterer Privatisierungen von kommunalem Eigentum und eine
       Umlenkung der Investitionsbereitschaft von Banken und Versicherungen in den
       öffentlichen Wohnungsbau (statt der Autobahn-GmbH) – um der Verdrängung der
       Normalfamilien mit Kind(ern) und zwei hart arbeitenden Eltern aus den
       Kernzonen der Städte zu begegnen;
       
       d) an eine deutliche Qualitätssteigerung der öffentlichen Schulen, weil
       viele Eltern schon jetzt erfahren, dass die Zunahme privater Schulen die
       Ungleichheit der Chancen weiter steigert und Schüler mit
       Migrationshintergrund schon bald in der Mehrzahl sein werden – im
       Zusammenhang damit könnte Sch. den Bildungsföderalismus infrage stellen;
       
       e) an eine Diskussion über Arbeitszeitverkürzung, da angesichts der
       kommenden Automatisierungswelle mit einer dramatischen Zunahme von
       Dequalifizierung und Arbeitslosigkeit zu rechnen ist.
       
       ## Auf Sieg spielen
       
       In Hinblick auf die Strukturprobleme Europas und die Armutsmigration
       sollten AfD- resp. CSU-Positionen weniger als „rechtsradikal“ bekämpft als
       analytisch überboten werden mit der Argumentation: Wenn wir das
       Weltwirtschaftssystem nicht grundlegend verändern, wird es unangenehmer,
       tendenziell kriegerisch werden – in jedem Fall wird es für uns
       Mitteleuropäer teurer – aber die Bereitschaft zu einer globalen
       Umverteilung wird wachsen, wenn es innerhalb der reichen Gesellschaften
       gerechter zugeht.
       
       Der Tenor von Sch.’ Reden sollte sein: Es kommen große Herausforderungen,
       ja Zumutungen auf uns zu, aber wenn wir uns denen nicht stellen, sind die
       Aussichten für Kinder und Kindeskinder düster. Große Veränderungen sind
       nötig, nicht kleinteilige Umverteilungskämpfe. Reformen, von denen klar
       ist, dass sie weder mit jetzigen Mitteln und Mentalitäten, weder mit
       rot-schwarzen noch mit schwarz-grünen Koalitionen durchzusetzen sind,
       sondern nur mit einem Zukunftsbündnis der drei sozialdemokratischen
       Parteien. Finanzierungsmodelle sollten konkret an inhaltliche
       Reformschritte gekoppelt werden, sodass sie weniger Empörung hervorrufen.
       
       Wichtig ist auch der Subtext: Die aktiven, wachen, problembewussten Bürger
       sind heute schon unterwegs in die Zukunft und oft weiter als die
       Partei-Eliten. Sch. sollte deshalb bevorzugt lokale Initiativen,
       Energiegenossenschaften, Reformschulen, Familienbetriebe und
       Vorzeigekommunen besuchen.
       
       Die hier skizzierte Strategie „spielt auf Sieg“, wie Sch. es verkündet hat,
       aber sie spielt auf den inhaltlichen Sieg des sozialdemokratischen
       Gesellschaftsmodells. Auf Sieg spielen aber heißt auch: beherzt eine
       Koalition ausschließen, in der selbst ein sozialdemokratischer Kanzler eine
       „Weiter so wie bisher“-Politik betreiben müsste. Wenn dies nicht zum Erfolg
       führt, ist es um der langfristigen Glaubwürdigkeit willen besser, mit einem
       solchen starken Programm in die Opposition zu gehen.
       
       1 Apr 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Mathias Greffrath
       
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