# taz.de -- Die Wahrheit: Rauer Ton, rohes Blut
       
       > Der Eurovision Song Contest 2017: Prävention und Keilerei im Vorfeld des
       > Sangeswettbewerbs. Die Ukraine ist gerüstet.
       
 (IMG) Bild: Nach dem ESC werden die Sänger aussehen wie Vitali Klitschko
       
       In rot verschmierten Lettern prangt das Motto des diesjährigen Eurovision
       Song Contest „Celebrate Diversity“ an der Wand des kleinen Büros in jenem
       Kiewer Boxclub, in dem einst die Klitschkos ihre ersten Händel ausfochten.
       Hier residiert Oksana Swetlowa, die Aggressionsbeauftragte des
       internationalen Sängerwettstreits, der ab Mai in der ukrainischen
       Hauptstadt ausgefochten wird.
       
       „Ist das etwa Blut?“, fragen wir entsetzt, doch statt einer Antwort fangen
       wir uns einen rechten Haken ein. Wir haben die erste Regel des ESC
       verletzt. „You don’t talk about the ESC!“, zischt die resolute Dame, die im
       zivilen Leben eine Division Gulaschkanonen bei Luhansk befehligt.
       
       „Was Diversität angeht, muss unser Land als Vorreiter gelten“, erklärt
       Swetlowa, nachdem sie uns verarztet hat. „Gerade im Osten der Ukraine
       zelebrieren unsere Bürger extrem unterschiedliche Vorstellungen. So weit
       ist man in Resteuropa noch nicht, aber auch dort wird das Meinungsbild
       immer diverser. Darauf müssen wir im Wettbewerb reagieren.“
       
       ## Stimmungslage wie im Hochsicherheitstrakt
       
       Swetlowa beugt sich über den Kartentisch und erläutert uns kurz die
       Stimmungslage am Vorabend des Eurovision Song Contest: „Die Südeuropäer
       hassen Merkel-Deutschland, die Visegrád-Staaten halten die westlichen
       Demokratien für rückgratlos, die Briten werden als Verräter der
       europäischen Idee verachtet, die Franzosen zerfleischen sich selber,
       während die Niederländer auf die Türken losgehen, die ohnehin gerade Amok
       laufen. Bloß gegen Australien hat eigentlich niemand etwas. Im Prinzip
       müssten wir die Chose in einem Hochsicherheitstrakt abhalten.“
       
       Wir nicken betreten. Was ist bloß aus dem völkerverbindenden Ringelpiez
       geworden, bei dem sich Schlagersternchen Nicole artig ein bisschen Frieden
       wünschte oder Udo Jürgens frankophil seiner Chérie dankte?
       
       Die Swetlowa beantwortet die naive Frage mit einem melancholisch
       geschlagenen Uppercut, der uns nachdenklich auf die Bretter schickt. Der
       Ton ist rauer geworden, die Beiträge martialischer. Im vorigen Jahr
       reüssierte die Kriegsballade „1944“ der ukrainischen Sängerin Jamala, die
       mit der Zeile „They kill you all“ die Tätigkeit der Sowjetarmee auf der
       Krim eher kritisch würdigte.
       
       Bis zur allerletzten Minute hatte man deshalb in Russland gezögert, ob man
       auf die musikalische Provokation mit Boykott, einem präventiven Atomschlag
       oder dem üblichen vaterländischen Kirmestechno reagieren soll. Stattdessen
       wurde nun überraschend die Sängerin Julia Samoilowa ins Rennen geschickt,
       dabei wirkt die 27-jährige Rollstuhlfahrerin mit ihrem in unbeholfenem
       Englisch gesungenen Lied „Flame is burning“ erst einmal nicht besonders
       bedrohlich.
       
       „Ein potemkinsches Pferd“, glaubt jedoch Swetlowa und verweist auf den
       vollen Songtitel „Flame is burning (and so will be Kiev, you fascist
       pigs)“. „Die Russen verlassen sich darauf, dass die stolze ukrainische
       Nation keine behinderten Frauen schlägt.“ Allerdings werde man dem Vorbild
       der niederländischen Deeskalationsdiplomatie folgen und die Sängerin gar
       nicht erst ins Land lassen, zumal ihr Auftritt von 6.000
       schwerstbewaffneten Tänzern ohne Rangabzeichen begleitet werden soll.
       
       ## Kriegszustand ohne Glitzerhandschuhe
       
       „Ist unter solchen Bedingungen ein friedlicher Wettbewerb überhaupt noch
       möglich?“, fragen wir besorgt. „Natürlich, aber nur wenn wir das Reglement
       ein wenig lockern“, beruhigt uns Swetlowa. „Es ist an der Zeit, die
       Glitzerhandschuhe auszuziehen.“ Endlich führt uns die
       Aggressionsbeauftragte in den geheimen Keller, in dem der Song Contest mit
       bloßen Fäusten in einer stacheldrahtumzäunten Arena ausgetragen werden
       soll. Das holländische Duo „Wilders & de zwarte Piet“ übt dort gerade
       seinen Evergreen „Islam, SA, SS“, während eine britische Künstlerin das
       Abschiedslied „Fare Thee Well, Ye Polish Scum“ in ihre Harfe zimmert. Noch
       ein Quentchen zelebrierte Diversität mehr, spüren wir, und wir befänden uns
       im Kriegszustand.
       
       „Genau wie die Politik setzen wir in diesem Jahr voll auf Eskalation“,
       bestätigt Swetlowa. Die Darbietungen der Interpreten dürfen deswegen nicht
       nur gesungen, sondern auch gebrüllt, gespien oder aus kleinkalibrigen
       Waffen geschossen werden. Entschieden wird nach dem
       Last-Bully-Standing-Prinzip, das sich im US-Wahlkampf bewährt hat. Ferner
       wird ein Lyrikpreis für den originellsten NS-Vergleich ausgelobt. Hier gilt
       natürlich die Türkei als Favorit, der auch gute Chancen auf den Gesamtsieg
       eingeräumt werden. Gerüchten zufolge will Krawallpräsident Erdoğan
       persönlich antreten, um den Gassenhauer „Die Gedanken sind frei“ auf einem
       Xylofon aus den Schädeln seiner Feinde zu spielen.
       
       „Wenn Deutschland in diesem Teilnehmerfeld mithalten will, muss es seine
       passiv-aggressive Grande Dame mit ihren kunstvoll verlogenen
       Durchhaltechansons schicken“, rät Swetlowa zum Abschied. Wir erbleichen.
       Merkel wird nicht auch noch singen?! Davor kann uns bloß Ralph Siegel
       bewahren, doch der greise Schlager-Tycoon ist längst ins Wolkenkuckucksheim
       San Marino abgewandert.
       
       21 Mar 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Christian Bartel
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Eurovision Song Contest
 (DIR) Ukraine
 (DIR) Schlager
 (DIR) Schwerpunkt Angela Merkel
 (DIR) FDP
 (DIR) Rechtsradikalismus
 (DIR) ESC 2017
 (DIR) ESC 2017
 (DIR) Satire
 (DIR) Ikea
 (DIR) Bundespräsident
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Die Wahrheit: Die Unverwüstlichen
       
       Ausweiskontrolle! Wer sind Angela Merkel und Martin Schulz? Der große
       Wahrheit-Geburtsurkunden-Check jetzt hier.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Lindner, Chris Lindner
       
       Die FDP vollzieht ihre Wiederauferstehung im Stil einer Doppel-Null: mit
       großkalibriger Wumme, Aston Martin – aber ohne Elefanten.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Winnetou war kein Nazi
       
       Ministerin Ursula von der Leyen durchkämmt auf der Suche nach dem Übel des
       Rechtsradikalismus die Kasernen der Bundeswehr.
       
 (DIR) #ESC am Dnipro, 1. Folge: Wo bleibt die Hoffnung?
       
       Vor dem ESC ist mitten im kalten Krieg mit Russland: Die Ukraine hat
       schwerwiegende Probleme rund um den Eurovision Song Contest.
       
 (DIR) Eurovision Song Contest: Russland zieht sich vom ESC zurück
       
       So etwas gab es noch nie. In Kiew werden nur noch 42 Länder miteinander
       konkurrieren, denn Russland hat sich zurückgezogen.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Jedem Anfang wohnt eine Gurke inne
       
       Die Wahrheit wird 25! Greatest Hit überhaupt: die wirklich wahrhaftige
       Festrede zum silbernen Jubiläum der schönsten Seite der Welt.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Heiterer Hort
       
       Der gesellschaftliche Wandel hat Ikea erreicht. Der unmögliche Möbelkonzern
       entdeckt jetzt das Geschäft am rechten Rand.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Ein neues Ass fürs Schloss Bellevue
       
       Vor der Bundespräsidentenwahl 2017: Gesucht wird ein Nachfolger für Joachim
       Gauck. Das Kandidatenfeld ist eng. Sehr eng.