# taz.de -- Stadtportrait Würselen: Ein Ort, gesprochen wie ein Verb
       
       > Würselen war in der Nachkriegszeit eine große Nummer im Fußball. Dann
       > versank es mitsamt Linksverteidiger Schulz in der Bedeutungslosigkeit.
       
 (IMG) Bild: Hier dominiert geklinkerte Ödnis: in der Kanzlerkandidatenstadt Würselen (Archivbild 2010)
       
       WÜRSELEN taz | Würselen, jene 39.000-Seelen-Gemeinde gleich bei Aachen, ist
       städtebaulich, sagen wir es dezent, von der Muse nur flüchtig geküsst.
       Geklinkerte Ödnis dominiert, eine satireverdächtige Radwegführung und
       Gesichtslosigkeit bis zum Horizont mit den Abraumhalden im ehemaligen
       Aachener Steinkohlerevier. Immerhin, es gibt mehrere Ampeln, fünf Hotels,
       einen Sportflughafen, Reo in Burkina Faso als Partnerstadt und „ein
       Gewässer 2. Ordnung: Wurm“, so die Stadtinfo.
       
       Die Wurm heißt das Flüsslein übrigens, nicht der und mäandert sehr
       romantisch dahin. 1967 brachte es Würselen zu bundesweiter Berühmtheit, als
       der Ortsteil Bardenberg das Finale der europäischen
       TV-Schmierseifengroteske „Spiel ohne Grenzen“ (ja, mit Moderator Camillo
       Felgen) gewann. Der Goldpokal steht immer noch im Rathaus. Die
       Bürgermeister heute heißen Nelles und Bülles.
       
       Würselen, das sich Würseln spricht, als wäre der Ort ein Verb, hat andere
       Stärken. Es gibt eine merkwürdig fußballaffine Würze in den Stadtgenen:
       Torsten Frings ist hier geboren (79 Länderspiele, Vizeweltmeister 2002,
       derzeit Trainer von Bundesligist Darmstadt) ebenso wie Jupp Kapellmann
       (Bayern München, Weltmeister 1974) und Joachim Löws Vorvorvorvorvorgänger
       Jupp Derwall. Hinzu kommen Alemannia Aachens Legenden Jupp Martinelli und
       Günter Delzepich, jener Zweimeter-Zweizentner-Zweitligabriegel, der in den
       70er und 80er Jahren karrierelang nie einen Pressschlag verlor.
       
       Kurios: Beide schlugen nach der Sportkarriere die Beamtenlaufbahn ein und
       wurden Amtsleiter bei der Stadt Aachen (Rasen-Vollstrecker Delzepich:
       Vollstreckungsbehörde). Und in Würselen reicht offenbar schon ein bekannter
       Fußball-Name, um zumindest regional prominent zu werden: Wie zum Beispiel
       Willi Lemke, ein surrealistischer Maler und Bildhauer.
       
       ## Kleine Stadt, einst großer Verein
       
       Und die kleine Stadt beheimatete einst einen großen Fußballverein: SV
       Rhenania Würselen 05. Die Rhenanen spielten 1948–1950 sogar in der höchsten
       deutschen Spielklasse der damiligen Zeit: Oberliga West; in einer Liga mit
       Größen wie Dortmund, Köln, Rot-Weiss Essen und Schalke. Das entscheidende
       Tor zum Aufstieg 1948 hatte ein noch minderjähriges Talent mit Namen Jupp
       Derwall geschossen. Im Vereinslied heißt es bis heute: „… sogar der
       Schalker Kreisel wurde hier geknackt, auch die Alemannia wurde hier
       vernascht …“ Und einmal 5:1 auf dem Aachener Tivoli gewonnen. 5:1!
       
       Jupp Derwall brachte es bald zum Nationalspieler, war dann sechs Jahre
       Bundestrainer und coachte die DFB-Elf zum Europameistertitel 1980 und zum
       Vizeweltmeister 1982. Bei Galatasaray Istanbul (zwei Meistertitel) wurde er
       heftig verehrt und initiierte einen Boom deutscher Trainer am Bosporus
       (Daum et al). Würselen gedenkt seiner mit einer Jupp-Derwall-Straße.
       
       Der wahrscheinlich besonderste Rhenania-Trainer war Emanuel Schaffer, ein
       polnischer Jude, geboren 1923. Seine Eltern und drei Schwestern wurden 1940
       in ihrer Wohnung von Nazis ermordet, während Emanuel zufällig noch in der
       Schule war. 1958 war er nach seiner aktiven Zeit als Fußballer (sechs
       Länderspiele für Israel) nach Köln gezogen und machte bei Hennes Weisweiler
       an der Sporthochschule sein Fußballlehrerdiplom. Um Praxiserfahrungen zu
       sammeln und das Studium zu finanzieren, trainierte er den Verbandsligisten
       Rhenania Würselen (3. Liga damals), intensiv und hart, wie es heißt;
       nebenbei machte er Weisweiler mit seiner späteren Ehefrau Gisela bekannt.
       
       Schaffer wurde Israels Nationaltrainer und schaffte bis heute Einmaliges:
       Sein Land qualifizierte sich für eine WM (1970). Als Weisweiler, mit dem
       Schaffer bald eine Freundschaft verband, Trainer bei Borussia
       Mönchengladbach war, gelang den beiden ein besonderer Coup. Borussia flog
       zur Vorbereitung auf die WM im Februar 1970 als erste deutsche Elf zu einem
       Freundschaftsspiel nach Tel Aviv. Borussia gewann 6:0, und die Zuschauer
       feierten Netzer & Co mit Standing Ovations. „Also, ich verstehe die Welt
       nicht mehr“, soll ein Vertreter der deutschen Botschaft schon in der
       Halbzeitpause gesagt haben, „wir mühen uns jahrelang in kleinen Schritten
       um Wiederherstellung des Vertrauens zu uns Deutschen, wohingegen Sie nur 45
       Minuten benötigen, um einen Freudentaumel auszulösen.“
       
       Israel feierte bei der WM ein 0:0 gegen Italien. Bald wurde Schaffer wegen
       seiner Trainerakribie „der Deutsche“ genannt, ein bemerkenswerter Titel für
       einen Schoa-Überlebenden. 2012 starb Schaffer mit 89 Jahren. Die Jüdische
       Allgemeine schrieb, er sei ein Mann gewesen, „der durch seine Liebe zum
       Fußball Grenzen überwand und das Verhältnis Israels zu Deutschland
       entscheidend geprägt hat“. Und schob noch eine Anekdote nach: „Ab jetzt
       trainieren wir dreimal“, habe Schaller seinen Spielern einmal erklärt. „An
       welchen Tagen?“, hätten sie darauf gefragt. „Sie konnten nicht glauben,
       dass Schaffer dreimal täglich meinte.“
       
       ## „Gut, trotz Martin“
       
       Ein paar Jahre nach Schaffers Würselener Zeit trat bei Rhenania auch der
       fußballverrückte Schüler Martin Schulz nach dem Ball und wurde 1972 als
       Linksverteidiger mit der B-Jugend westdeutscher Vizemeister. Beim 1:7 im
       Finale gegen Schalke schoss sein Gegenspieler Rüdiger Abramczik, in der
       Bundesliga später als Flankengott gefeiert, allerdings fünf Tore, weshalb
       ein früherer Mitspieler heute freundlich lästert: „Wir waren nicht wegen
       Martin so gut, sondern trotz Martin.“ Eine schwere Knieverletzung bald
       danach beendete alle Träume des Martin Schulz, einmal Spieler von der
       Güteklasse Abramczik stoppen zu können. Ohnehin stellte der Würselener
       SPD-Kanzlerkandidat kürzlich klar: „Für Profifußball hätte es bei mir
       sowieso nie gereicht.“
       
       Fußball und Würselen sind auch die Ingredienzen, die den so authentisch
       wirkenden Martin Schulz einer kleinen Schummelei überführen. Im April 2012
       war er mit alten Rhenania-Weggefährten, wie er erzählte, beim
       Bundesligamatch Dortmund gegen Stuttgart – „Das beste Spiel, das ich seit
       langem gesehen habe.“ Gesehen ist indes nur die dreiviertel Wahrheit: Nach
       gut 70 Minuten (Spielstand 2:0) trafen Schulz & Friends eine fatale
       Fehlentscheidung. Sie verließen das Stadion und konnten die sensationelle
       Schlussphase mit dem Endergebnis von 4:4 nur noch im Autoradio verfolgen.
       Um sich sehr zu ärgern.
       
       Mit Rhenania ging es steil bergab. Heute kickt der Klub in der Kreisklasse
       A – das ist Liga 9, derzeit Tabellenplatz 10, weit hinter Columbia
       Donnerberg, aber wenigstens knapp vor DJK Armada Euchen-Würselen. Das
       Stadion mit überdachter Sitzplatztribüne könnte 2.000 Besucher fassen. Ein
       Niedergang, der zu Martin Schulz’ Biografie (frühe Fußballkarriere,
       Schulabbruch, Alkoholismus, Bürgermeister, EU-Großpolitiker) ebenso passt
       wie zu seinem glühendem Fantum zum 1. FC Köln – jenem Verein, der wie kaum
       ein anderer für hemmungslosen Absturz und gloriosen Aufschwung steht und
       den Schulz „eine lose verkoppelte Anarchie“ nennt.
       
       Jetzt aber scheint Würselens Renaissance vielfältig eingeleitet: Die
       Geschwister Anna (18) und Yannick (22) Gerhardt, geboren ebenda, spielen
       beide Bundesliga (sie: FC Bayern, er: VfL Wolfsburg). Die Firma
       GoalControl, die als erste die rechnergesteuerte Torlinientechnik im
       Fußball einsetzte (WM 2014), hat in Würselen ihren Sitz.
       
       Neben der aufgelebten Fußballszene gibt es mittlerweile eine tolle
       Freilichtbühne („Burg Wilhelmstein“) und die angeblich „größte Wanduhren-
       und Standuhrenausstellung der Welt“. Das städtische Gymnasium hat im Januar
       den 1. Preis für das beste digitale Unterrichtsprojekt („iPad-Klasse“) in
       Deutschland gewonnen, und Rhenania das letzte Spiel. Für Würselens
       endgültige Auferstehung muss jetzt nur noch dieser Exkicker Schulz zum
       deutschen Fußballkanzler gewürselnt werden.
       
       2 Feb 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Bernd Müllender
       
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