# taz.de -- Städtepartnerschaft Berlin-Istanbul: Die andere Seite
       
       > Die Lage in der Türkei wirkt sich auf die Beziehungen zwischen Berlin und
       > Istanbul aus. Es kriselt. Und man rückt enger zusammen.
       
 (IMG) Bild: Solidarität mit Andersdenkenden in der Türkei – nur wie? Das fragen sich viele BerlinerInnen
       
       Es war ein schweres Jahr für Afacan. In der interkulturellen
       Begegnungsstätte an der türkischen Ägäis, wo sonst deutsche Kinder und
       Jugendliche umhertobten, ist es im Sommer 2016 ruhig geworden. Gerade mal
       drei Schülergruppen aus Deutschland seien im vergangenen Jahr nach Afacan
       gekommen – in den Sommern zuvor seien es gewöhnlich 10 bis 15 gewesen,
       berichtet Heike Brandt von der Berliner Stiftung Umverteilen.
       
       Die 69-Jährige hat ihr halbes Leben damit verbracht, das Projekt Afacan zu
       verwirklichen. Seit 1986 fördert die Stiftung Jugendreisen in die Türkei.
       Ziel des Projekts: durch das gemeinsame Reisen und den Austausch mit
       türkischen SchülerInnen Vorurteile abzubauen und damit zum besseren
       Zusammenleben von jungen Menschen verschiedener kultureller Hintergründe in
       Berlin beizutragen. Die Nachfrage stieg kontinuierlich. Von 2004 bis 2014
       verdoppelte sich die Zahl der Übernachtungen nahezu.
       
       Afacan ist eine der zahlreichen Initiativen in Berlin, die sich für den
       interkulturellen Austausch zwischen Berlin und Istanbul engagieren. Ob der
       Städtepartnerschaftsverein Kadıköy in Friedrichshain-Kreuzberg, das
       Ballhaus Naunynstraße oder die Otto-Wels-Grundschule mit einer
       Partnerschule in Istanbul – in den vergangenen 30 Jahren ist neben der 1989
       gegründeten offiziellen Städtepartnerschaft zwischen den beiden Städten ein
       vielschichtiges Netzwerk zivilgesellschaftlicher Akteure entstanden, die
       Kontakte herstellten und gemeinsame Projekte verwirklichten, meist
       ehrenamtlich. Im Kleinen wuchsen Istanbul und Berlin so eng zusammen.
       
       ## Angst vor Anschlägen
       
       Doch dann explodierten in der Türkei auf einmal wieder Bomben, zuerst in
       Suruç an der syrischen Grenze, später auch in Ankara und Istanbul. Afacan
       liegt fernab von den Anschlagsorten. Dennoch blieben 2015 die ersten
       Jugendgruppen weg. Als im Jahr darauf in immer kürzeren Abständen Anschläge
       in der Türkei verübt wurden, sagten zahlreiche Gruppen ihre geplante Reise
       nach Afacan ab. Das harte Vorgehen der AKP-Regierung gegen alle
       Andersdenkenden nach dem niedergeschlagenen Putschversuch im vergangenen
       Juli schreckte die letzten verbliebenen Gruppen ab.
       
       „Die Eltern haben Angst vor Anschlägen, das kommt zu den Ängsten vor dem
       Unbekannten dazu, die sie ohnehin schon hatten“, erklärt Heike Brandt.
       Dabei sei Afacan als Begegnungsstätte unbehelligt von den Repressionen der
       türkischen Regierung, der Betrieb laufe normal weiter – eigentlich.
       
       Zum ersten Mal seit Jahren musste die Stiftung 2016 mit Zuschüssen
       einspringen, um über den Winter zu kommen. Zum Ende des Jahres wurden alle
       MitarbeiterInnen entlassen, und sie werden erst in der neuen Saison wieder
       eingestellt. Ohne Jugendgruppen kämpft das Projekt ums Überleben.
       
       Auch die VertreterInnen des August-Bebel-Instituts, das Kontakte zwischen
       Berliner und Istanbuler Initiativen herstellt, sind vergangenes Jahr nicht
       nach Istanbul gereist. Der Austausch bestehe weiterhin, sagt der Leiter des
       Instituts, Ingo Siebert. Aber er habe den Eindruck, dass die Zusammenarbeit
       zunehmend schwieriger werde, weil die zivilgesellschaftlichen Initiativen
       in Istanbul von den Repressionen der türkischen Regierung betroffen seien.
       
       Dass die MitarbeiterInnen des Instituts in Istanbul unter Beobachtung
       standen, ist Siebert zufolge schon zuvor spürbar gewesen – doch die
       Unterdrückung durch die Regierung habe kontinuierlich zugenommen. Und weil
       die Freiheit in der Türkei immer weiter eingeschränkt wird, wenden sich
       laut Siebert in letzter Zeit vermehrt junge TürkInnen an das Institut, weil
       sie zumindest zeitweise nach Berlin kommen wollen, um hier Projekte zu
       verwirklichen.
       
       Das stellt die Beteiligten vor neue Herausforderungen. „Da bewegen wir uns
       in den klassischen Formen der Solidaritätsarbeit. Gleichzeitig müssen wir
       in dieser heiklen Situation mit Fingerspitzengefühl handeln, um unsere
       türkischen Partner nicht zu gefährden“, erklärt Siebert. Er appelliert an
       die Stadt, die Kontakte zur Istanbuler Stadtverwaltung aufrechtzuerhalten
       und das zivilgesellschaftliche Engagement weiterhin zu unterstützen. „Wir
       arbeiten heute unter völlig anderen Voraussetzungen als zu Beginn der
       Städtepartnerschaft“, sagt Siebert. „Der Austausch war getragen von der
       Utopie, einen transkulturellen Raum zu schaffen. Den gibt es auch, aber er
       wird massiv behindert.“
       
       ## Beziehung mit Tradition
       
       Initiiert wurde die offizielle Städtepartnerschaft zwischen Westberlin und
       Istanbul 1989 vom damaligen Regierenden Bürgermeister Walter Momper. Doch
       die Beziehungen zwischen den beiden Städten sind schon viel älter. In den
       dreißiger Jahren fanden zahlreiche Politiker wie der spätere Berliner
       Oberbürgermeister Ernst Reuter und WissenschaftlerInnen wie der Zoologe
       Ernst Wolfgang Caspari, die aus Berlin fliehen mussten, Exil in der Türkei.
       Eingeladen vom türkischen Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk, halfen sie
       beim Aufbau des Hochschulwesens in der damals noch jungen Türkei.
       
       In den sechziger Jahren kamen türkische GastarbeiterInnen über die
       Zwischenstation Istanbul nach Berlin. So verwob sich die Geschichte Berlins
       in den vergangenen 50 Jahren allein schon durch diese BewohnerInnen mit der
       Istanbuls. Vielfach waren es die türkischstämmigen BerlinerInnen, die in
       Vereinen und Initiativen den Austausch zwischen den beiden Städten
       vorantrieben.
       
       Das 20-jährige Bestehen der Städtepartnerschaft wurde 2009 noch groß
       gefeiert. Das ganze Jahr über widmeten sich in Istanbul und Berlin
       Festivals, Ausstellungen und Veranstaltungen der Freundschaft zwischen den
       beiden Metropolen. Das Jubiläum fiel in eine günstige Zeit: Die politische
       Lage in der Türkei war entspannt, Istanbul sollte im Jahr darauf
       europäische Kulturhauptstadt werden und erfuhr in diesen Jahren einen
       internationalen Hype.
       
       2014 fielen die Feierlichkeiten deutlich verhaltener aus. Dazwischen lag
       die skrupellose Niederschlagung der Gezi-Proteste in Istanbul durch die
       türkische Regierung. Im Sommer 2013 äußerte sich der damalige Regierende
       Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) besorgt über den Polizeieinsatz gegen
       die DemonstrantInnen am Taksimplatz in Berlins Partnerstadt.
       
       Im Sommer 2014 sagte Istanbuls Bürgermeister Kadir Topbaş (AKP) kurzfristig
       ein Treffen mit einer Delegation des Berliner Abgeordnetenhauses ab, die
       zum 25. Jubiläum der Städtepartnerschaft nach Istanbul gereist war. Erste
       Risse durchzogen die Beziehung zwischen den beiden Städten.
       
       Nichtsdestotrotz setzen Berlin und Istanbul ihre Beziehungen fort. 2016
       tauschten sich WissenschaftlerInnen von Berliner und Istanbuler Hochschulen
       in einem Projekt über Stadtentwicklung und Flüchtlinge aus. Dieses Jahr
       soll das türkische nationale Jugendorchester nach Berlin reisen.
       
       Die Aufrechterhaltung der zivilgesellschaftlichen und kommunalen
       Verbindungen bleibe das Ziel, sagt ein Sprecher der Senatskanzlei Berlin.
       Leichter sei die Zusammenarbeit nicht unbedingt geworden, räumt er ein.
       Aber auf kommunaler Ebene sei ein Austausch auch unterschiedlicher
       Sichtweisen eher möglich als auf Staatsebene. Der kritische Dialog könne im
       Rahmen der Städtepartnerschaft deshalb fortgeführt werden, sagt er.
       
       ## Weitermachen, trotz allem?
       
       Im Kreuzberger Büro der Stiftung Umverteilen sitzen an einem Abend im
       November die VertreterInnen der Stiftung mit LehrerInnen im Stuhlkreis und
       diskutieren. „Wir sind selbst völlig unsicher, ob wir euch dazu raten
       sollen, mit euren Schülern nach Afacan zu fahren“, sagt Heike Brandt. „Aber
       wir wollen den Begegnungsraum in der Türkei aufrechterhalten, solange es
       geht.“ Afacan ist ein wichtiger Freiraum in einem repressiven System, wie
       es nun in der Türkei herrscht, davon ist Brandt überzeugt. Die Stiftung
       will die zivilgesellschaftliche Opposition in der Türkei in diesen Zeiten
       nicht allein lassen, sondern den Austausch und die Kontakte weiter
       ausbauen.
       
       Aber was, wenn die türkischen Partner durch ihre Teilnahme am Projekt in
       den Fokus der Überwachung geraten? Unterstützt die Reise nach Afacan
       indirekt vielleicht gar das Regime?
       
       Cornelia Löffler und Derya Ulaş-Emirli entscheiden sich an diesem Abend
       dagegen, mit ihrer Schulklasse dieses Jahr nach Afacan zu fahren. Vor drei
       Jahren waren die beiden Lehrerinnen von der Wedding-Schule mit ihren
       SchülerInnen zuletzt in Afacan. „Ein toller Aufenthalt“, erinnert sich
       Löffler. „Aber jetzt kann ich die Gefahr von Anschlägen nicht außen vor
       lassen. Das sind Kinder, die mir anvertraut werden“, sagt sie.
       
       Unter den derzeitigen Bedingungen könne zudem ein Austausch mit der
       Partnerschule nicht gewährleistet werden, gibt Derya Ulaş-Emirli zu
       bedenken. Zwar sei der Schulleiter ihrer Partnerschule grundsätzlich
       interessiert an dem Austausch – aber nur mit Erlaubnis des Schulamts. „Die
       Schulbegegnungen sind durch Erdoğans Bildungspolitik deutlich erschwert
       worden. Eine offizielle Erlaubnis vom Schulamt zu bekommen ist schwierig“,
       räumt Heike Brandt ein. Auch Angst vor den möglichen Konsequenzen des
       Schüleraustauschs spiele für die türkischen KollegInnen eine Rolle, sagt
       Ulaş-Emirli. „Sie wissen nicht, was auf sie zukommt, und ihre Ängste sind
       in der Hinsicht auch berechtigt“, erklärt sie.
       
       ## Verwerfungen im Großen
       
       Die politische Großwetterlage zwischen Deutschland und der Türkei ist
       frostig dieser Tage. Die Verwerfungen im Großen hinterlassen ihre Spuren im
       Kleinen. Das Politische zermürbt die Netzwerke zwischen Berlin und
       Istanbul, die kommunalen und zivilgesellschaftlichen. Vereine sehen sich
       plötzlich vor Fragen gestellt, mit denen sie sich zuvor nicht
       auseinandersetzen mussten. Welche Konsequenzen hat unsere Zusammenarbeit
       für die türkischen Partner? Wie können wir uns solidarisch zeigen?
       
       2.000 Kilometer entfernt von Berlin im Istanbuler Stadtviertel Kadıköy
       begutachten Christiane Zieger und Özcan Ayanoğlu die Fotoausstellung
       „UrbanIstanbul“, die sie gerade im Caddebostan Kültür Merkezi
       (Kulturzentrum) eröffnet haben: eine gemeinsame Arbeit von FotografInnen
       aus Berlin und Istanbul, die den Umbruch dokumentieren, in dem sich
       Istanbul gerade befindet.
       
       Vor 18 Jahren haben Zieger und Ayanoğlu den Städtepartnerschaftsverein
       Kadıköy in Kreuzberg mit gegründet. „Wir sind Zeitzeugen einer
       Entwicklung“, sagt Christiane Zieger, „drei Regierungswechsel in der Türkei
       und die Zusammenlegung von Friedrichshain und Kreuzberg haben wir in dieser
       Zeit erlebt.“ Sie hat Schülerbegegnungen und Bildungsreisen in Kadıköy
       begleitet, soziale Projekte in den beiden Partnerbezirken vernetzt und 1999
       nach dem großen Erdbeben am Golf von Izmit zusammen mit dem Bezirk
       Kreuzberg Erdbebenhilfe geleistet. Der Verein ist für sie zum Lebensprojekt
       geworden, das merkt man, wenn sie spricht.
       
       Özcan Ayanoğlu versteht den Städtepartnerschaftsverein als Scharnierstelle,
       an der die Beziehungen von der offiziellen Ebene auf die
       zivilgesellschaftliche Ebene übergreifen – ein Knotenpunkt innerhalb eines
       weitverzweigten Beziehungsnetzes. „Das hat zwischen Kreuzberg und Kadıköy
       sehr gut geklappt. Die verschiedenen Akteure kommen über uns zusammen und
       versuchen dann, eigene Projekte und Initiativen zu entwickeln“, erklärt er.
       
       Das liegt auch an der politischen Nähe zu Kadıköy, in dem die BewohnerInnen
       traditionell die Oppositionspartei CHP wählen: „Wir hatten immer mit Leuten
       zu tun, mit denen wir in Bezug auf Demokratie und Menschenrechte die
       gleiche Meinung teilten“, sagt Christiane Zieger. Zum 20-jährigen Jubiläum
       der Bezirkspartnerschaft im vergangenen September kam der Bürgermeister von
       Kadıköy mit einer Delegation nach Berlin.
       
       ## Andere Dinge im Kopf
       
       Selbstverständlich ist das nicht: Die Türkei unter der AKP-Regierung sei
       dem EU-Städtepartnerschaftsprogramm „Europa für Bürgerinnen und Bürger“
       nicht beigetreten. „Es gab kein offizielles Interesse an diesen
       Beziehungen“, sagt Zieger. Auch sie bekommen die politischen Umwälzungen in
       der Türkei zu spüren. „Was wir wahrnehmen, ist eine tiefe
       Niedergeschlagenheit unter den Menschen. Der Austausch mit Berlin rückt in
       so einer Zeit teils nach hinten, weil die Menschen andere Dinge im Kopf
       haben als nach Berlin zu kommen“, berichtet Zieger.
       
       Andere halten die Repressionen nicht mehr aus und fliehen. 350 Geflüchtete
       aus der Türkei kamen der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales
       Berlin zufolge in den ersten neun Monaten des Jahres 2016 nach Berlin – so
       viele wie im ganzen Jahr 2015. In ganz Deutschland stellten im gleichen
       Zeitraum 3.793 Menschen aus der Türkei einen Asylantrag. Das sind doppelt
       so viele wie noch im Jahr zuvor.
       
       Der Raum für Andersdenkende und interkulturelle Offenheit verengt sich in
       der Türkei rapide. Die Ehrenamtlichen blicken alarmiert auf die Zukunft des
       Landes. „Jetzt ist die Kehrtwende da. Keiner hat in dieser Härte damit
       gerechnet“, sagt Özcan Ayanoğlu vom Städtepartnerschaftsverein Kadıköy.
       „Wir werden aber weiter mit den demokratischen Kräften vor Ort
       zusammenarbeiten und mit konkreten Projekten gegen diese Entwicklung
       streben.“
       
       Eins steht für alle fest, die in den Austausch zwischen Berliner und
       Istanbuler zivilgesellschaftlichen Akteure viel Arbeit gesteckt haben: Die
       Kontakte jetzt abzubrechen ist keine Option. Auch die türkischen
       Initiativen appellieren an ihre Partner in Berlin, sie nicht allein zu
       lassen.
       
       Die vielfältigen Beziehungen zwischen den Kulturinstitutionen,
       StudentInnen, Familien und Initiativen in Istanbul und Berlin erhalten die
       Städtepartnerschaft von unten aufrecht. Diese Kontakte, da ist sich
       Christiane Zieger vom Städtepartnerschaftsverein sicher, werden halten. Der
       Verein hat 2016 trotz aller Widrigkeiten fünf Projekte umgesetzt und will
       den Austausch jetzt erst recht fortsetzen. Auch der Bezirk Kadıköy will die
       gemeinsamen Projekte laut Özcan Ayanoğlu vorantreiben. „Über all die Jahre
       ist ein gegenseitiges Vertrauen gewachsen. Das ist wie in einer Beziehung:
       Wenn sie gut ist, rückt man in schweren Zeiten näher zusammen“, sagt
       Zieger.
       
       10 Jan 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Elisabeth Kimmerle
       
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