# taz.de -- Bürgerrechte in Polen: Demonstrieren von Gottes Gnaden
       
       > Die rechte Regierung schränkt die Versammlungsfreiheit ein. Staat und
       > Kirche sollen privilegiert sein, wenn sie Kundgebungen abhalten wollen.
       
 (IMG) Bild: Da waren sie noch erlaubt: Proteste gegen eine Verschärfung des Abtreibungsrechtes im Oktober in Warschau
       
       Warschau taz | Wie mühsam hatten die Polen einst für ihre Freiheit
       gekämpft! Und jetzt verlieren sie sie wieder. Gesetz für Gesetz. Seit
       Oktober 2015 peitscht die nationalpopulistische Partei „Recht und
       Gerechtigkeit“ (PiS) mit ihrer absoluten Stimmenmehrheit ein Gesetz nach
       dem anderen durchs Parlament, die die Rechte und Freiheiten der polnischen
       Staatsbürger immer mehr einschränken.
       
       Am Freitagabend war die Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit an der
       Reihe. Die PiS-Abgeordneten stimmten für ein Staats- und Kirchenprivileg,
       das diesen Vorrang bei allen Demonstrationen einräumt. Normale
       Staatsbürger, Vereine und Bürgerinitiativen werden das Nachsehen haben.
       Zwar protestierten die beiden Oppositionsparteien Bürgerplattform (PO) und
       Moderne (Nowoczesna) gegen die Einschränkung der Demonstrationsfreiheit.
       Doch vergeblich. Wie immer wurden sie von der PiS überstimmt.
       
       Besonders umstritten ist die Neuregelung, die es Organisationen erlaubt,
       zyklische Veranstaltungen an einem Ort zu reservieren. Eine Anmeldung beim
       Woiwoden, einem Regierungsvertreter in den 16 Woiwodschaften des Landes,
       soll genügen, um eine Dreijahreserlaubnis zu bekommen.
       
       Diese Regelung käme zurzeit vor allem der PiS zugute, die an jedem 10.
       eines Monats eine Gedenkfeier für den 2010 bei einem Flugzeugabsturz ums
       Leben gekommenen Parteigründer und damaligen Präsidenten Polens, Lech
       Kaczyński, abhält. Die Regelung macht Gegendemonstrationen nahezu
       unmöglich.
       
       ## Gesetz ist verfassungswidrig
       
       „Das PiS-Gesetzesprojekt zur Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit ist
       verfassungswidrig und verletzt internationale Rechtsstandards“, kritisierte
       Polens Ombudsmann Adam Bodnar scharf. Er fordert die PiS auf, das
       Gesetzesprojekt zurückzuziehen. Sorgen bereitet ihm die Hierarchisierung
       der Demonstranten, die Staat und Kirche einen privilegierten Status
       gegenüber dem eigentlichen Souverän, den Staatsbürgern, einräumt. Auch die
       Warschauer Chefin von Amnesty International warnte vor der Verletzung des
       Menschenrechts auf Versammlungsfreiheit.
       
       In den letzten Monaten gab es in ganz Polen immer wieder Straßenproteste
       gegen die PiS-Regierung. Millionen Polen folgten den Demonstrationsaufrufen
       des Komitees zur Verteidigung der Demokratie (KOD), Frauen protestierten
       massenhaft gegen das absolute Abtreibungsverbot, Lehrer und Eltern
       protestierten gegen die Abschaffung der Mittelschule. Die PiS, die
       angeblich genau weiß, was gut für das Volk ist, geißelte manch einen der
       Aufmärsche als „politische Provokation“.
       
       In Zukunft wird es nun ganz einfach sein, eine unliebsame Demonstration zu
       verhindern. Es muss lediglich eine staatliche oder kirchliche Aktion am
       gleichen Ort und zur gleichen Zeit angemeldet werden. Das ist dann kein
       Verbot, läuft aber auf dasselbe hinaus.
       
       Mit einem weiteren Gesetz soll Polens Zivilgesellschaft demnächst zentral
       von Warschau aus organisiert werden, kündigte Premierministerin Beata
       Szydło von der regierenden PiS an. Ein „Nationales Zentrum zur Entwicklung
       der Zivilgesellschaft“ werde Vereinen, Stiftungen und Bürgerinitiativen
       Aufgaben und Ziele zuteilen, zu deren Erfüllung sie dann Zuschüsse vom
       Staat erhalten würden.
       
       ## Formale Demokratie
       
       Ziel dieses Gesetzes sei, so bekannte Szydło in einem Interview ganz offen,
       Stiftungen, die „Teil der Politiker-Seilschaften der vorherigen Regierung“
       seien, demnächst kein Geld mehr oder wesentlich weniger als bisher
       zuzuweisen. Das „Nationale Zentrum zur Entwicklung der Zivilgesellschaft“
       werde die Zuschüsse sämtlicher Ministerien für polnische NGOs
       zusammenführen, so dass diese dann von der Warschauer Zentrale aus verteilt
       werden könnten. Das Zentrum – und damit auch die Milliarden Zloty für die
       Zivilgesellschaft – soll Premier Szydło persönlich unterstellt sein.
       
       „Kommt zur Vernunft, Leute“!, appellierte der Soziologieprofessor Ireneusz
       Krzemiński an die PiS-Politiker in Parlament und Regierung. Polen nähere
       sich mehr und mehr dem bereits überwunden geglaubten Einparteienstaat an –
       diesmal unter Jarosław Kaczyński als dem PiS-Parteisekretär. Schon jetzt,
       so Krzemiński, „kann Polen nur noch formal eine Demokratie genannt werden“.
       
       4 Dec 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Gabriele Lesser
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Polen
 (DIR) PiS
 (DIR) Beata Szydło
 (DIR) Jarosław Kaczyński
 (DIR) Versammlungsrecht
 (DIR) Polen
 (DIR) Jarosław Kaczyński
 (DIR) Polen
 (DIR) Lesestück Interview
 (DIR) Polen
 (DIR) Polen
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Proteste gegen Mediengesetz in Polen: Demonstranten blockieren Sejm
       
       Vor dem und im Parlament protestieren Menschen gegen die Politik der
       nationalkonservativen Regierung. Diese schießt verbal heftig zurück.
       
 (DIR) Streit zwischen Polen und EU eskaliert: Verfassungsrichter werden erpresst
       
       Die Ernennung neuer Richter hat den Streit ausgelöst. Nun droht Polens
       nationalistische Regierung, dem Verfassungsgericht das Geld zu streichen.
       
 (DIR) Proteste gegen Abtreibungsverbot in Polen: „Diese Regierung abtreiben!“
       
       Erneut demonstrieren aufgebrachte Frauen am Montag landesweit gegen die
       geplante Verschärfung des Abtreibungsrechts.
       
 (DIR) AktivistInnen über Protest in Polen: „Das ist der Anfang vom Ende der PiS“
       
       Das Abtreibungsverbot in Polen wurde zurückgezogen. Die Demos waren
       erfolgreich, doch für Karolina und Chris Niedenthal ist der Kampf längst
       nicht vorbei.
       
 (DIR) Proteste in Polen: Freiheit, Gleichheit und Demokratie!
       
       Zehntausende gehen am Wochenende erneut gegen die nationalpopulistische
       PiS-Regierung auf die Straße. Auch Ärzte und Lehrer marschieren mit.
       
 (DIR) Journalisten in Polen: Ein Auge auf die Politik
       
       Polens Regierung beschneidet die Pressefreiheit. Gefeuerte Journalisten
       gründen nun neue Portale – und fordern: Glaubt dem Staatsfernsehen nicht
       alles!