# taz.de -- Letzter Roman des US-Autors William Gass: Das große Lamento
       
       > Der US-Schriftsteller William Gass ist gestorben. Zuletzt erschien von
       > ihm der passende Roman zum Hass der Rechtspopulisten: „Mittellage“.
       
 (IMG) Bild: Irgendeiner lamentiert ja immer: Seeadler
       
       AfD und Pegida verbreiten Hass gegen „Gutmenschen“ und mischen Groll in den
       Alltag. Der Front National spielt auf der Klaviatur der Angst vor dem Islam
       und schürt die Wut auf ein humanes Leben für alle. Donald Trump und seine
       Stammwählerschaft haben liberale Amerikaner im Wahlkampf mit ätzender
       Verachtung überzogen.
       
       Amerika und Europa haben dieser Tage ausnahmsweise mal mehr gemeinsam als
       die Mitgliedschaft in der Nato; die Suche nach verbalen und handelnden
       Strategien gegen den Diskurs der neuen Rechten hält an, gute Antworten
       wurden bislang nur selten gefunden. Was tun? Vielleicht hilft ein Blick in
       die Literatur.
       
       Verachtung, Wut, Groll und Hass, dazu gern noch eine große Prise Grobheit
       und eine Schubkarre voll Brutalität – wer versteht sich besser auf die
       Menschenverachtung als der gute alte Misanthrop?
       
       William H. Gass, US-Schriftsteller und emeritierter Professor für
       Literaturwissenschaft, hat in seinem neuen Roman „Mittellage“ einen
       mustergültigen Misanthropen geschaffen. Sein Protagonist heißt Joseph
       Skizzen, auch Joey genannt, lebt irgendwo im Bundesstaat Ohio frau- und
       kinderlos mit seiner Mutter zusammen und unterrichtet als Musikprofessor an
       einem mittelmäßigen Kleinstadtcollege.
       
       Skizzen ist ein Betrüger und Hochstapler: Auf gefälschten Unterlagen
       gründet seine College-Anstellung, eine getrimmte Biografie weist ihn als
       Kenner der Zwölftonmusik aus. Und seine Angst, enttarnt zu werden, macht
       ihn darüber hinaus zu einem angepassten Heuchler, der dennoch nie den
       richtigen Ton trifft – weder in der Musik noch im Alltag.
       
       ## Willkommen im „Museum der Unmenschlichkeit“
       
       Während seine Mutter Pflanzen sät und pflegt und sich dem Leben im Garten
       zuwendet, sammelt Skizzen Zeitungsartikel über die menschliche Grausamkeit.
       In einem eigens eingerichteten Archivraum für Massaker entsteht sein
       „Museum der Unmenschlichkeit“.
       
       Und noch eine Sammlung gehört zu Skizzen, es sind über hundert
       Klageaphorismen zur Niedertracht des Menschengeschlechts, die ein Skelett
       der Handlung im Roman bilden: „Die Angst, dass die Menschheit vielleicht
       nicht überlebt, ist von der Angst ersetzt worden, dass sie bestehen
       bleibt“, formuliert der Musiklehrer am Anfang. Später muss sich jeder
       misanthropische Aphorismus biegen lassen, bis er perfekt zu jener Musik
       passt, „die auf zwölf Tönen basierte“.
       
       Gass ist ein Spezialist für literarische Misanthropie. Bereits in seinem
       [1][Roman „Der Tunnel“] (1995, auf Deutsch 2011) verbreitete seine
       Hauptfigur, der Historiker William Kohler, viel Hass auf die Menschheit im
       Allgemeinen und seine Ehefrau sowie diverse Kollegen im Speziellen. Die
       Figur Kohlers – ein germanophiler „Faschist des Herzens“ und Fantasieführer
       der rassistischen Partei der Enttäuschten – war eine Einladung an den
       Leser, sich auf die Worte, Abgründe, Gehässigkeiten und Enttäuschungen der
       Figur einzulassen und so während der Lektüre der knapp 1.100 Seiten selbst
       zum Nazi zu werden, genauer: zum Nachfühlnazi.
       
       ## Feldwebel im Blumenbeet
       
       „Der Tunnel“ und das neue Werk „Mittellage“ haben einige Gemeinsamkeiten.
       Neben der Misanthropie einen weitgehend isolierten weißen Mann als
       Protagonisten, in beiden Fällen Collegelehrer, ländliche Regionen der USA
       als Handlungsorte, die späte Mitte des 20. Jahrhunderts als Zeit der Romane
       und amerikanisch-zentraleuropäische Verbindungen bei der Interpretation der
       Welt, wie sie seine Hauptfiguren vornehmen.
       
       Der mittlerweile über 90-jährige Gass nennt sich einen „spätmodernen“
       Autor, sein Stil ist philosophisch-analytisch statt postmodern-poppig;
       Heidegger, Hegel, Nietzsche, Kierkegaard und Schopenhauer sind stets
       zugegen, wenn Kohler oder Skizzen oder Miss Moss – eine Nebenfigur in
       „Mittellage“, die nur aus „Angst und Argwohn“ besteht und als „Schatten,
       der finstere Gedanken über seinen Ursprung hat“, charakterisiert wird –
       wieder einmal ihr Lamento über die Weltenläufte beginnen.
       
       „Mittellage“ ist ein Buch des Lamentos. Jeder und jede lamentiert ständig
       über den anderen oder die andere, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind
       allesamt Zeiten, über die es sich zu beschweren lohnt. Wenn Skizzens Mutter
       sich ihren Pflanzen zuwendet, „war sie ein Feldwebel, und ihre Blumen
       wussten, dass sie Haltung annehmen und grüßen mussten, wenn sie vorbeikam“.
       Über den Garten sagt Joey, er „gleiche einem faschistischen Staat; geleitet
       wie ein Orchester, geordnet wie eine Armee, eugenisch erbarmungslos und
       hasserfüllt gegenüber den Behinderten, unerbittlich in der Verfolgung
       seiner Feinde [. . .].“
       
       Eine Bibliothekarin sagt: „Niemand hat härter gearbeitet als ich, um es zu
       nichts zu bringen.“ Ein Schulleiter meint: „Alle Religionen sind eben nicht
       gleich erschaffen. Alle bis auf unsere sind schmutzig.“ Über eine
       Kleinstadt heißt es: „Kriminelle sind zu schlau, um in Urichstown zu
       wohnen. Wir züchten welche, aber sie ziehen weg.“ Skizzen ist es
       schließlich, der die Ursache des Lamentos offenlegt: „An all unseren Herzen
       hängt BITTE NICHT STÖREN“.
       
       ## Grausame Dialektik der Borniertheit
       
       Die Misanthropie, die Gass seinem Romanpersonal mitgibt, ist eine, die sich
       aus dem Mangel an Vorstellungskraft speist, wie es anders werden könnte.
       Zugleich gibt sie aber zu wissen vor, dass es nicht anders werden kann und
       nie wird. Gass’ Misanthropen sagen: Alle sind daran schuldig und damit
       widersprechen sie vehement den rechten Misanthropen der politischen
       Gegenwart, die sagen: Ihr alle seid schuldig, wir aber nicht.
       
       Die Gesellschaft, die rechte Misanthropen der Gegenwart gerne hätten, sähe
       trotzdem wohl exakt so aus wie der Alltag in jenen Dörfern und
       Kleinstädten, die den Misanthropen Skizzen erst hervorgebracht haben – was
       für eine grausame Dialektik der Borniertheit, was für eine endlose Abfolge
       an Kleingeistigkeit und Herrenmentalität. Lebte Schopenhauer noch, er
       könnte an dieser Stelle endlos Material für neue Studien entdecken.
       
       US-Rezensenten haben darauf hingewiesen, dass die Romanstruktur von
       „Mittellage“ einem Konzert ähnele, in dem der Protagonist Skizzen
       nacheinander drei Soloinstrumente spiele und dabei jedes Mal in Konkurrenz
       zum Orchester trete. Wenn dieser Hinweis stimmt und das gemeinsame
       Musizieren aus raffinierten Wechseln von zeitweise unabhängigen Solisten
       und ihrer Teilhabe am Spiel des Ensembles besteht, so findet Skizzen dort
       zwar seinen Raum, das perfekte Wechselspiel, das musikalische Freiheit
       erzeugt, bleibt ihm jedoch fremd.
       
       ## Wofür Sellerie berühmt ist
       
       Gass hat seinem riesigen Konvolut aus Menschenhasstiraden also keine
       Synthese aus Kultur (Skizzens Musik) und Natur (Mutter Skizzens Garten)
       beigegeben. Kultur und Natur treffen aufeinander, sie bedingen einander
       nicht, bleiben einander fremd, nichts Neues entsteht aus dieser Begegnung.
       Es ist etwas anderes, Unerwartetes, was die Misanthropie bricht und aus
       „Mittellage“ ein zutiefst humanes Werk macht: Humor.
       
       Im Garten hält sich Skizzens Mutter mal wieder „die Hände vor die Augen,
       damit sie die Welt schlechter und die Vergangenheit besser sah“, und
       Skizzen steigt umgehend ein in den Überbietungswettbewerb, wer die Welt am
       dunkelsten zeichnen kann. Am Ende ist es die Mutter, die den Essenzialismus
       des alten und neuen Hasses (das ist „unsere Natur“) mit dem Pragmatismus
       der realen Natur auskontert: „Sellerie ist jedenfalls berühmt dafür, dass
       er Sellerie ist.“
       
       Gleiches kann man von der Misanthropie sagen, der Gass’ „Mittellage“ ein
       seltsam schräges und musikalisch umwehtes Denkmal setzt. Wenn man nahe
       genug rangeht, meint man inmitten all des Neids, der Kleinlichkeit und
       Tücke, der Grausamkeit und Gier, der Lügen und Abgeschmacktheit, der
       schiefen Töne und zerstörerischen Synkopen ein leises Kichern zu vernehmen.
       
       27 Nov 2016
       
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