# taz.de -- Die Wahrheit: Unerwartete Entwicklung des Abends
       
       > Ein Autor auf Lesereise, eine indische Gräfin und ein gar köstlicher Wein
       > – merken Sie was? Die Geschichte nimmt ihren Gang …
       
       Während eines abendlichen Gangs durch eine mir fremde Stadt entdeckte ich
       im Schaufenster einer Buchhandlung ein Plakat, auf dem mein Name stand. Es
       handelte sich um eine Veranstaltung im Kulturzentrum des Orts. Wie es hieß,
       las ich an diesem Abend ab 20 Uhr aus meiner Autobiografie.
       
       ‚Aber die ist doch noch lange nicht fertig‘, dachte ich unangenehm berührt.
       „Wie kommen die Menschen nur auf so eine Idee?“ Ich sah auf meine Uhr, es
       war bereits Viertel nach acht. „Ich muss sofort hingehen und die
       Angelegenheit klären“, beschloss ich.
       
       Wenig später erreichte ich das Kulturzentrum. Im erleuchteten Foyer standen
       einige Menschen. Ich trat ein. Eine große Frau, deren Alter ich auf
       siebenundvierzig geschätzt hätte, wenn ich dazu aufgefordert worden wäre,
       kam zu mir und stellte sich als örtliche Kulturamtsleiterin vor. „Sie haben
       Glück“, sagte sie, „es ist kein Mensch zu Ihrer Lesung erschienen.“
       
       „Und die Menschen, die hier stehen?“, wunderte ich mich. „Die sind immer
       hier“, erklärte die Kulturamtsleiterin, „sie bevölkern das Foyer ein
       wenig.“ Ich war bezaubert. Etwas Schöneres hätte sie mir nicht mitteilen
       können: Die Lesung fiel aus!
       
       Ersatzweise lud mich derselbe Graf in sein Schloss ein, der schon meinen
       Vater während dessen Kindheit zum Mittagessen und Radiohören eingeladen
       hatte. Da ich längst vergessen hatte, wie und weshalb ich eigentlich in die
       Stadt gekommen war, nahm ich die Einladung dankend an. In einer alten
       weißen Limousine wurden wir von einem livrierten Chauffeur zum Schloss
       gefahren, das ich tatsächlich wiedererkannte (genetisches Gedächtnis).
       
       Nach dem Aussteigen informierte mich der Graf darüber, dass die Räume des
       Gebäudes derzeit wegen einer Insektenplage nicht bewohnbar seien, weshalb
       wir uns in den großen rückwärtigen Schlossgarten begaben. Dort lernte ich
       die Gräfin, eine Inderin, kennen. Das Make-up auf ihrer Schulter war von
       Weinerwold. Ohne Umschweife fragte sie mich nach meiner Profession, doch
       hatte ich dieselbe vergessen.
       
       Zwanglos erläuterte mir die Gräfin daraufhin die sich gegenseitig
       bedingende assoziative Nähe der Begriffe „Tätigkeit“ und „Tragödie“. Nicht
       nur inhaltlich, sondern auch vom Schriftbild her könnten beide leicht mit
       einander verwechselt werden. Als Beispiel nannte sie die Ähnlichkeit von
       „berufliche Tätigkeit“ mit „berufliche Tragödie“.
       
       Der späte Sommerabend erzeugte mit all seinem Blütenduft und Mondlicht eine
       Situation, die ich widerstandslos annahm. Beim alten Teepavillon unweit des
       Flusses saßen wir stundenlang plaudernd und Wein trinkend. Schwarze
       geflügelte Gestalten huschten über den Nachthimmel.
       
       „Große Fledermäuse haben Sie hier“, merkte ich an, doch meine Gastgeber
       gingen nicht darauf ein. In den Kerzenflammen verbrannten immer wieder
       prasselnd und zischend Motten. Der Graf schenkte großzügig nach.
       „Geräumiger Wein mit Heimvorteil, wann immer Sie wollen“, stand auf dem
       Flaschenetikett. Ich dachte: „Wenn mich jetzt mein Hausarzt sehen könnte!“
       
       15 Nov 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Eugen Egner
       
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