# taz.de -- Sozialunternehmerin in Nepal: Nasreen Sheikhs Plan geht auf
       
       > Eine Frau widersetzt sich der arrangierten Ehe und gründet eine Firma,
       > die anderen Frauen in einer Zwangslage hilft – mit enormem Erfolg.
       
 (IMG) Bild: Nasreen Sheikh, 24, in ihrer Schneiderwerkstatt in Goldhunga, einem Vorwort von Kathmandu
       
       Kathmandu taz | Nasreen Sheikh sitzt auf dem staubigen Boden in ihrer
       Wohnung. Draußen knattern Mopeds über die Paknajol-Straße, Rikschafahrer
       strampeln gegen Schlaglöcher, Hitze und den Ballast auf der Rückbank.
       Drinnen schlingt Nasreen Sheikh die schmalen Arme um die Beine, als wolle
       sie sich selbst festhalten.
       
       „Wie kannst du mir das antun? Warum heiratest du nicht wie alle?“, klagt
       die Mutter. Das grüne Tuch ist ihr vom Kopf gerutscht und zeigt strähnige
       Haare über den buschigen Brauen. Nasreen Sheikh schweigt. „Wenn ich dich
       mit diesen Fremden sehe, denke ich, ich hätte dich als Baby wegwerfen
       sollen.“
       
       Später steht Nasreen Sheikh mit einer dieser Fremden in dem kleinen
       Ladenraum unterhalb der Wohnung. Er ist vollgestopft mit bunten Schals,
       Taschen und Kleidern, die Schaufenster sind blind vor Staub. Nasreen
       Sheikhs traditioneller Salwar Kurta, eine Tunika über weiten Pluderhosen,
       umhüllt ihren schmalen Körper. Sie wirkt mädchenhaft mit ihren 40 Kilo und
       der Stupsnase, albert mit einer Touristin aus den USA herum, die fast ein
       Dutzend Schals auf den Ladentisch türmt. „97 Dollar“, sagt Saheen Sheikh,
       Nasreens 19-jährige Schwester. Die Touristin schluckt.
       
       „Die Produkte sind handgenäht. Von Frauen, die zwangsverheiratet wurden
       oder kaum Geld und Chancen haben“, erklärt Nasreen Sheikh. Mehr muss sie
       meist nicht sagen, um Kunden von ihrem Projekt „Local Women’s Handicrafts“
       zu überzeugen. Sie legt ihnen die Hand auf die Schulter, erzählt von ihrem
       Projekt, ohne sich aufzudrängen. Die Fremden haben schon nach wenigen
       Sekunden das Gefühl, Sheikh gut zu kennen. Die Touristin zückt den
       Geldbeutel und zahlt.
       
       ## Die Zwangsehe: eigentlich verboten
       
       Nasreen Sheikhs Geschichte ist die eines ungewöhnlichen Aufstiegs in einem
       der ärmsten Länder der Welt. Sie beginnt in einem konservativen Dorf an der
       indisch-nepalesischen Grenze und endet in der Hauptstadt Kathmandu, wo
       Nasreen Sheikh ein Sozialunternehmen führt. Vielleicht ist das auch erst
       ihr Anfang. Denn die junge Frau hat Größeres vor.
       
       „Es ist schwierig, meine Geschichte zu erzählen“, sagt sie. „Sie klingt so
       unwirklich.“
       
       Nasreen Sheikh wuchs in dem Grenzdorf Rajura auf. Der Vater psychisch
       krank, die Mutter tiefgläubig und verwurzelt in den Kastenregeln, da lernte
       Sheikh früh: Schule ist Jungensache. Sie sah, wie ihre Schwester Yasmin mit
       11 Jahren verlobt wurde, mit 16 vermählt. Bei der Hochzeit weinte die
       Schwester.
       
       In Nepal sind Ehen zwischen Minderjährigen verboten. Doch viele entziehen
       sich den Gesetzen durch traditionelle Zeremonien. So wie Nasreen Sheikhs
       Mutter Haleema. Sie will die Töchter an gute Männer vermitteln, das heißt:
       sunnitisch und mit einem guten Einkommen.
       
       ## Eine spontane Geste
       
       Als Nasreen Sheikh 13 war, zog die Familie nach Kathmandu. Ihr Glück, denn
       in Städten heiratet man später. Statt windschiefer Bauernhütten gab es
       Handyshops, statt verhüllten Hausfrauen Touristinnen in Shorts. Manchmal
       saß Sheikh am Straßenrand und beobachtete das Treiben. Sie lebte erst drei
       Monate in der Stadt, als ein weißer Mann vorbeikam, Mitte 50, Schnauzer.
       „Kannst du mir Englisch beibringen?“, fragte sie und zupfte ihn am T-Shirt.
       Der Fremde blickte hinab. „Klar“, antwortete er auf Nepalesisch.
       
       „Unglaublich“, sagt Nasreen Sheikh heute, „ich hatte noch nie jemanden um
       Hilfe gebeten.“ Leslie St. John, der Fremde, sagt: „Es gibt so viele
       bettelnde Kinder in Nepal. Ich hatte noch nie einem geholfen.“
       
       St. John erzählt von dieser ersten Begegnung am Telefon einer
       Pflegeeinrichtung in Los Angeles. Die Parkinson-Krankheit hat den
       67-Jährigen zurück in seine Heimat geführt, nach vierzig Jahren in Asien.
       Er unterrichtete in Klöstern Englisch und Religion, traf den Dalai Lama.
       
       „Nasreen war so aufgeweckt“, sagt St. John. Er kaufte ihr Bücher,
       unterrichtete sie zu Hause. Dann ging sie zur Schule, in Bluse und
       Faltenrock, übersprang zwei Klassen. St. John übernahm alle Kosten. Erst
       nannte sie ihn Lehrer. Dann Papa. Für die Eltern blieb er der Fremde. Nur
       ihr Bruder Maghar unterstützte das Mädchen.
       
       ## Die drei Geschwister
       
       Maghar, heute 33, sitzt auf einer abgewetzten Matratze in Nasreen Sheikhs
       Wohnung. „Der Doktor war eine riesige Chance für sie“, sagt er. An seinem
       linken Handgelenk prangt eine Narbe. Elf Jahre war er alt. Eine
       Glühbirnenfabrik in Delhi, immer wieder platzte das Glas. Dann nähte er den
       ganzen Tag Bordüren an Saris, stolz, weil er die Familie ernährte. „Wenn
       ich schon nicht zur Schule gehen konnte, sollte wenigstens Nasreen das
       tun.“ Auch Maghars Ehe war arrangiert. Für Nasreen Sheikh wollte er etwas
       Besseres, brachte ihr neben der Schule das Nähen bei.
       
       Tag und Nacht ratterte die Maschine in dem kleinen Zimmer in Kathmandu. Die
       Geschwister belieferten für einen Hungerlohn eine Textilfabrik. Die erste
       Frau, die zu ihnen stieß, sprach Nasreen Sheikh auf der Straße an, eine
       schwangere Bettlerin. Sie zeigte ihr, wie aus Stoffbahnen Röcke und Schals
       werden. Das sprach sich herum; als sie zu sechst waren, eröffneten sie den
       Laden. So begann 2006 Nasreen Sheikhs kleine Firma. Im Kern die drei
       Geschwister, Maghar, Nasreen, Saheen, nur der Bruder volljährig. Sie boten
       drei Produkte an, zu lächerlich niedrigen Preisen. „Und die Leute kauften
       die Sachen“, sagt Nasreen Sheikh, noch immer ungläubig.
       
       Nebenher beendete sie die Schule und studierte mit St. Johns Hilfe
       Elektronik und Informationstechnologie. Als sie 20 wurde, intervenierte die
       Mutter: „Zeit zu heiraten.“ Die Eltern hatten einen Jungen aus dem
       Heimatdorf gewählt, das Datum stand fest. Nasreen Sheikh durfte ihn nicht
       kennenlernen, so will es der Brauch.
       
       ## Den Dorfvorsteher bestochen
       
       Sie weigerte sich. Als Erste aus ihrem Dorf. Die Eltern zerrten sie aus dem
       Laden, der Vater schlug zu, die Mutter wollte sich umbringen. Sie tauchte
       bei Freunden unter. Erst als Maghar den Dorfvorsteher bestach, damit er
       verbreitete, Sheikh sei geisteskrank, wurde die Hochzeit abgesagt. Ihre
       Eltern wurden zum Gespött des Dorfes.
       
       Nasreen Sheikhs Augen glänzen feucht, wie jedes Mal, wenn sie von der
       Zwangsheirat erzählt. Sie hat nie vergessen, wo ihr Weg begonnen hat. Immer
       wieder betont Nasreen Sheikh, wie dankbar sie Leslie St. John ist. Sie
       empfindet es als ihre Pflicht, diese Hilfe an andere Frauen weiterzugeben.
       Dafür stellt sie sich selbst zurück. Erst nach Tagen erzählt sie, dass sie
       eigentlich gerne Astronomie studieren möchte.
       
       Sie geht hinunter in den Laden, das Telefon klingelt. Sofort fasst sie
       sich. „Namaste?“ Der Lieferant. Sie spricht Nepalesisch, ihr Ton ist
       geschäftsmäßig. Nasreen Sheikh, die Unternehmerin. Sie hat gelernt,
       Rückschläge wegzustecken.
       
       ## Die Erde bebt
       
       Es ist der 25. April 2015, das größte Erdbeben in Nepal seit 80 Jahren
       rüttelt Risse in Nasreen Sheikhs Wohnung und begräbt die Nachbarsfamilie
       unter ihrem Haus. Drei Nächte verbringen Nasreen, Maghar und Saheen in
       einem Armeezelt, mit Hunderten Menschen. Immer wieder vibriert die Erde.
       Dann fahren sie mit dem Taxi durch die Trümmerstadt, bis in den Vorort
       Goldhunga. Eisenstangen ragen aus einem einstöckigen Rohbau. „Unsere
       Zukunft“, sagt Nasreen Sheikh. Vor einem Jahr hatten sie begonnen, die
       kleine Nähfabrik zu bauen.
       
       Eine Wand ist eingestürzt, Nähmaschinen liegen verteilt – mehrere tausend
       Euro Schaden. „Immerhin steht das Haus“, sagt Nasreen Sheikh mit fester
       Stimme. Ein Jahr später hat die Fabrik zwei Stockwerke. Zwanzig Näherinnen
       sitzen hinter Maschinen, schneiden Stoffe, bügeln. Da ist Babita Aryal, mit
       16 zwangsverheiratet, nie eine Schule besucht. Und Kamla Dahal, mit 14
       zwangsverheiratet, mit 17 das erste Kind. Oder Sunita Tamang, mit 15
       zwangsverheiratet, das Haus vom Erdbeben zerstört.
       
       Rund 100 Näherinnen haben Nasreen Sheikh und ihre Geschwister ausgebildet.
       Manche haben sich selbstständig gemacht, andere warten noch mit dem
       Kinderkriegen. Nasreen Sheikh ist stolz darauf, doch ungefragt spricht sie
       selten von sich. Die Haare trägt sie meist irgendwie, schminkt sich selten.
       Doch sie scheint es zu genießen, wenn sie in die staunenden Gesichter der
       Touristen in ihrem Laden schaut. Sie wiegt dann den Oberkörper hin und her
       und spielt geschäftig mit den Enden ihres Schals. Nicht nur der Wille zu
       helfen treibt sie an, auch der Wille erfolgreich zu sein. Zu zeigen: Auch
       eine nepalesische Frau kann es schaffen.
       
       ## Durchstarten mit Crowdfunding
       
       Zurück im Laden kramt sie einen Stapel Papier hervor. „Local Women,
       www.locwom.com, Nonprofit-Organisation“ steht darauf. „Mein neues Projekt“,
       erklärt sie. Eine bezahlte Nähausbildung für benachteiligte Frauen, wie
       bisher, mit Bildungszentrum und Gesundheitsklinik. „Ich will den Frauen auf
       allen Ebenen helfen. Sie lernen nähen, ihre Kinder gehen nebenan zur
       Schule, und die Klinik versorgt sie medizinisch.“ Konzentriert erläutert
       Nasreen Sheikh Struktur, Organigramm, Finanzierung. „Damit kann ich viel
       mehr Frauen helfen, weltweit.“ Sie war gerade in den USA, wo sie die
       Organisation angemeldet hat, Sponsoren gesucht, das Crowdfunding gestartet.
       Nasreen Sheikhs Traum: 100 Zentren in 20 Jahren. „Aber wenn es weniger
       sind, ist das auch okay.“
       
       Sie bürdet sich viel auf mit dem Unternehmen, doch der Erfolg, das Neue,
       das Ausland locken. Dabei geht sie immer mehr davon aus, dass ihre Ziele
       auch die anderer sind. Maghar und Saheen übernehmen wie selbstverständlich
       immer größere Aufgaben im Unternehmen; Maghar managt die Fabrik, obwohl er
       gerne ins Ausland gehen würde, Saheen übernimmt den Laden, obwohl sie
       Krankenschwester werden möchte. Nasreen Sheikh weiß, wie sie andere
       überzeugt. Sie hat einen Plan, um den Frauen zu helfen. Für den gibt sie
       viel. Fordert aber auch viel von ihren Geschwistern.
       
       Die zwanzig Seiten auf ihrem Schoß wiegen schwer. Auf den ersten Blick
       klingt das neue Projekt zu groß für die junge Frau. Doch hätte der Laden,
       den sie jetzt führt, damals im Grenzdorf, nicht auch größenwahnsinnig
       geklungen?
       
       „Ich habe ein gutes Gefühl“, sagt Leslie St. John, mit dem sie noch immer
       Kontakt hält, am Telefon. „Nasreen kann das.“
       
       30 Sep 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Veronika Wulf
       
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