# taz.de -- Nach dem Erdbeben in Italien: Schutt und Stille
       
       > 292 Tote hinterließ das Beben in Italien, in Amatrice starben die meisten
       > Menschen. Die Aufräumarbeiten laufen präzise.
       
 (IMG) Bild: Die mittelalterliche Kirche Sant'Agostino war eine Sehenswürdigkeit – bis zum 24. August 2016
       
       Amatrice taz | „Mamma mia!!“ entfährt es der jungen Polizistin, als sie auf
       den enormen Schutthaufen schaut, der vor nicht einmal zwei Wochen noch ein
       Wohnhaus war. Gerade ist sie nach Amatrice abgeordnet worden. Auf einem
       Rundgang verschafft sie sich einen Eindruck, und obwohl sie die Bilder der
       Zerstörung doch alle aus dem Fernsehen kennt, ist sie sichtlich geschockt.
       
       Es sind die Details, die aufwühlen. Die drei Stofftiere zum Beispiel,
       Minnie, Pluto und ein Teddybär, die arglos scheinend auf den Steinbrocken
       hocken, das braune Kuvert eines Einschreibebriefs, der Poststempel aus dem
       Jahr 1989, das mit weißen Laken bezogene alte Ehebett, das ganz oben auf
       dem Schuttberg thront, der „Anna Karenina“-Band zwischen verbogenen
       Leitungsrohren. Seine Schwägerin habe hier gewohnt, erzählt ein
       untersetzter, fülliger Mann in Bermudashorts, an den Füßen Badeschlappen,
       seine roten Haare sind zu einem Bürstenschnitt gestutzt.
       
       Drei Stockwerke habe das Haus gehabt, berichtet er, und dann fängt er an,
       an den Fingern abzuzählen, „fünf, sechs – nein, sieben.“ Sieben Menschen
       konnten nur noch tot aus den Trümmern gezogen werden, drei überlebten,
       unter ihnen die Schwägerin. Er selbst wohnte auf der anderen Seite des
       kleinen Platzes, in einem sechsstöckigen Wohnblock, genauso in Stahlbeton
       ausgeführt wie das zusammengekrachte Haus, „aber bei uns gab es keine
       Toten, keine Verletzten, unser Bau ist stehen geblieben. Mein Freund Rocco,
       seine Frau, ich selbst – wir alle sind heil rausgekommen“.
       
       Doch die Schäden, die tiefen Risse in der Fassade sind unübersehbar,
       vorerst kann hier keiner wohnen. Im Zeltlager sei er nicht, erzählt der
       Mann dann noch, „gleich nach dem schweren Erdbeben von L’Aquila 2009 habe
       ich mir seinerzeit einen Wohnwagen gekauft“.
       
       ## Die Zeit steht still
       
       Um 3.36 Uhr brach das Beben am 24. August über die Menschen von Amatrice
       und den umliegenden Orten herein, brachte fast 300 von ihnen den Tod, riss
       alle anderen aus der Bahn. Still ist es auf den Straßen, man sieht keine
       Autos, nur wenige Menschen sind unterwegs, kein einziger Laden ist offen.
       Einfach stehen geblieben zu sein scheint die Zeit seit jener Nacht.
       
       Vor dem Trümmerhaus steht noch das Schild, das für den 24. August auf dem
       Platz ab 6 Uhr ein Halteverbot verhängte, wegen des Markts. Gleich um die
       Ecke verkündet eine Leuchtreklametafel der Stadtverwaltung das
       Wochenprogramm, „24.08. Konzert, 25.08. Theater, 27.08. Fest der Spaghetti
       all’amatriciana“. Die rote Schrift läuft einfach weiter, ununterbrochen, so
       als sei immer noch der 23. August.
       
       Doch seit dem 24. August ist mitten in der Trümmerlandschaft eine
       Parallelwelt entstanden – eine Welt aus Zeltplanen, Containern,
       Wohnmobilen. Nur einen Steinwurf von der Reklametafel entfernt liegt der
       Sportplatz. „Ciao Franco!“, rufen fünf Männer in Uniform, von der Polizei,
       vom Zivilschutz, vom Roten Kreuz, am Eingang einem vielleicht vierjährigen
       Buben zu, der fröhlich hüpfend an der Hand seiner Mutter ins Zeltlager
       kommt. „Siehst du, die kennen dich hier alle“, flüstert ihm die Mama stolz
       zu.
       
       ## Ein Koch aus Sardinien
       
       An die 40 Großzelte erstrecken sich in langen Reihen über das gesamte
       Fußballfeld, Kies ist auf dem Rasen geschüttet, damit sich bei Regen keine
       Wasserlachen bilden, auf den Wäscheständern vor den Zelten trocknen
       T-Shirts und Jeans. Doch die meisten Zelte sind gerade leer, in einer
       langen Schlange stehen die Menschen vor dem Container an, an dem das
       Mittagessen ausgegeben wird. Die sardische Fahne mit den vier Mohren auf
       dem Dach des Containers verrät die Herkunft des Kochs. „Der macht seinen
       Job gut, hier schmeckt es prima“, sagt ein älterer Herr in der Schlange
       voller Anerkennung.
       
       „Ein kleines Stück Normalität zurückgeben“, so beschreibt der Koordinator
       des vom Zivilschutz geführten Lagers seinen Auftrag, und dazu gehört auch
       gutes Essen. Paolo Gatta, ein junger, drahtiger Ingenieur, dessen Polohemd
       mit Zivilschutzlogo perfekt sitzt, setzt auf zweierlei – auf die Effizienz
       der Abläufe und auf die Zuwendung zu den betreuten Personen.
       
       Schwer traumatisiert seien hier viele, und je größer der zeitliche Abstand
       zu dem Beben werde, desto klarer werde ihnen das ganze Ausmaß ihrer
       persönlichen Katastrophe. „Das sind Menschen, die mit ihrem Haus oft alles
       eingebüßt haben, was sie sich ein Leben lang aufgebaut haben, gar nicht zu
       reden von denen, die engste Familienangehörige verloren haben.“
       
       ## Präzis organisierte Hilfe
       
       Es den Menschen durch perfekte Organisation so annehmlich wie möglich zu
       machen – das ist die eine Antwort des Zivilschutzes. Die
       Scheinwerferbatterien für die nächtliche Beleuchtung, die Heizstrahler in
       den Zelten, in denen es nachts schon empfindlich kalt wird, die Ausgabe von
       Kleidern und anderen Dingen des täglichen Bedarfs: nichts hier wirkt
       improvisiert, und die Hilfe wurde ebenso zügig wie präzise organisiert.
       
       Selbst die Zufahrt zu dem Ort, zunächst unmöglich, weil eine Brücke
       zerstört war, wurde in nur wenigen Tagen mit dem Bau einer Behelfsbrücke 50
       Meter weiter wiederhergestellt. „Wir haben das Lager am Tag des Bebens
       binnen sechs Stunden errichtet und sofort 180 Menschen aufgenommen“,
       bilanziert Gatta. Jetzt hat das Lager über 250 Bewohner, um die sich 130
       Zivilschützer kümmern, fast alle von ihnen Ehrenamtliche.
       
       Um das Camp herum ist zudem eine nahezu komplette Behelfsinfrastruktur
       entstanden. Die Post und die Genossenschaftsbank sind in Wohnmobilen
       untergebracht, der Tierarzt empfängt in einer kleinen Holzhütte, Modell
       Schrebergarten. Im Camp, darauf legt Paolo Gatta wert, sind auch Haustiere
       zugelassen. Die Apotheke wiederum hat in einem Container Platz gefunden.
       Und gleich oberhalb des Lagers erhebt sich das Großzelt des Staatlichen
       Gesundheitsdienstes.
       
       ## Das Krankenhaus macht weiter
       
       Auch das örtliche Krankenhaus wurde durch das Beben schwer beschädigt, doch
       die Grundversorgung steht wieder. Vom weiträumigen Eingangsbereich gehen
       fünf Zelte ab, alle als ärztliche Behandlungszimmer hergerichtet. „Wir
       haben hier Haus- und Kinderarzt, das Verbandszimmer, und in den nächsten
       Tagen nimmt auch der Kardiologe seine Arbeit auf“, fasst die Leiterin
       Domenica Tomassoni zusammen.
       
       Auch das sei „ein Stück wiedergewonnene Normalität“, sagt sie, während
       gerade ein älterer Herr in eines der „Sprechzimmer“ an ihr vorbeihumpelt –
       Normalität für die Patienten, aber auch für die Ärzte, die durch das Beben
       ja auch ihre Arbeitsstätten verloren haben.
       
       Doch sosehr die Helfer von Normalität reden, Illusionen machen sie sich
       nicht. Die Menschen in Amatrice leben im Ausnahmezustand, viele stehen
       unter Schock. Am Eingang zum alten Ortskern beginnt die Rote Zone, der
       Zutritt dazu ist verboten. Doch die Feuerwehrleute begleiten immer wieder
       Einwohner zu ihren Häusern, damit sie dort ein paar Habseligkeiten
       zusammenklauben können. Gerade bringen sie eine alte Frau zurück, tief
       gebeugt geht sie, gestützt von zwei Feuerwehrmännern, völlig leer ist ihr
       Gesicht, ganz so, als sei ihr die Lebenskraft geraubt.
       
       ## Den Menschen Halt geben
       
       Von Menschen wie ihr sprechen die Psychologinnen im Camp. Angiola Lescai,
       genauso zierlich wie energisch, ist aus Rom gekommen, sie arbeitet für die
       Vereinigung „Psychologen für die Völker“, die auf Beistand in
       Extremsituationen spezialisiert ist. „Wir müssen den Menschen das Gefühl
       zurückgeben, dass sie überhaupt als Personen existieren; solche
       Katastrophen, solche Verluste gehen an den Kern der Identität“, fasst sie
       zusammen. Dafür brauche es Zuhören, Respekt, Nähe, Sensibilität. „Vor allem
       aber immer wieder Zuhören.“
       
       Nach zwei Tagen werden die Psychologinnen und Psychologen abgelöst, zu nahe
       gehen ihnen die Geschichten, die sie hören. Geschichten wie die, die
       Fabrizio erzählt. Der schlanke, grauhaarige Mann betreibt ein Lokal unten
       am Fuß von Amatrice, direkt an einem smaragdgrünen Forellenteich. „Ich war
       in der Nacht sofort oben“, berichtet er, oben vor dem Haus des Metzgers
       Pompeo, den er gut kannte. Pompeos Frau und seine zwei Kinder zogen sie
       schnell aus den Trümmern, lebend. „Doch Pompeo lag unter dem Schutt, er
       sprach mit mir, er sagte: ‚Meine Beine sind eingeklemmt‘.“ Fabrizios Stimme
       stockt. „Wir hatten kein Gerät, wir haben alles versucht, wir haben mit
       bloßen Händen gegraben, immer wieder haben wir Pompeo angesprochen – doch
       dann war es mit einem Mal still.“
       
       Aufgeben aber wollen die Menschen hier nicht. „Wir sind Montanari“, sagt
       einer von Fabrizios Freunden, und er meint: dickschädlige Leute aus den
       Bergen. „Natürlich konnten wir am Wochenende nach dem Erdbeben das Fest der
       Spaghetti all’amatriciana nicht feiern. Im Zeltlager aber gab es am Sonntag
       die Pasta all’amatriciana für alle, für die Bewohner des Camps wie für die
       Helfer.“
       
       11 Sep 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Michael Braun
       
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