# taz.de -- Selma Alaçam über interkulturelle Kunst: „Erziehung wirkt wie eine Tätowierung“
       
       > Die deutsch-türkische Künstlerin Selma Alaçam macht aus besprühten
       > Kelim-Teppichen Emanzipationskunst – und arbeitet nebenbei weibliche
       > Identitätskonflikte auf.
       
 (IMG) Bild: Selma Alaçam wirft sich osmanische Muster auf den Körper: „Körperprojektionen“ (2010/2011)
       
       taz: Frau Alaçam, Sie verfremden oft Kelim-Teppiche. Was bedeuten sie
       Ihnen? 
       
       Selma Alaçam: Kelims sind Dekorationsobjekte, die einer vorislamischen
       Tradition entstammen und bis heute in der Türkei hergestellt werden. Und da
       ich in meiner Kunst zwei Welten zusammenbringen möchte – die türkische
       meines Vaters und die deutsche meiner Mutter – arbeite ich gern mit
       Objekten und Fotos aus beiden Kulturen. Ich versuche sie zu transformieren
       und eine dritte Welt zu erschaffen. Einen Ort, an dem ich mich wohlfühle.
       
       Was bedeuten die abstrakten Muster der Kelims? 
       
       Es sind – oft von der Mutter an die Tochter weitergegebene – traditionelle
       Muster, von denen jedes für eine Emotion der Weberin steht. Oft stecken
       Sehnsüchte darin, der Wunsch zu heiraten oder die Angst, den falschen Mann
       zugesprochen zu bekommen. Aber ganz entschlüsseln kann man sie nicht. Ein
       kleines Geheimnis bleibt.
       
       Sie haben die Teppiche mit schwarzen Lack übersprüht. Darf man das? 
       
       Als ich die Arbeiten hergestellt habe, hieß es schon gelegentlich: „Wie
       kannst du so etwas Schönes zerstören?“ Aber mir ging es darum, den
       kunsthandwerklichen Kelim in ein Kunstwerk zu verwandeln, indem ich mich in
       die junge, fremdbestimmte Weberin hineinversetze.
       
       Geht es auch um Emanzipation? 
       
       Ja, natürlich! In meiner Kunst arbeite ich insbesondere weibliche
       Erfahrungen auf – meine eigenen und solche, die mir zugetragen wurden.
       
       Welche eigenen Erfahrungen? Sollten Sie auch verheiratet werden? 
       
       Nein, aber es gab in meiner Jugend schon so ein Gespräch. Es war nichts
       Ernstes, aber als ich in die Pubertät kam, fühlte sich mein Vater
       verpflichtet, mich zu fragen, ob er mich bei der Männersuche unterstützen
       darf. Und dieser Gedanke steckt natürlich auch in meinen Arbeiten: dass es
       bis heute junge Frauen gibt, die ihren Partner nicht selbst bestimmen
       können.
       
       Sie sind anders sozialisiert. Wie verlief Ihr deutsch-türkisches
       Familienleben in Mannheim? 
       
       Es war nicht einfach, denn ich habe mich teilweise heimatlos gefühlt: In
       Deutschland war ich diejenige, die streng erzogen wurde und mehr Regeln
       beachteten musste als meine deutschen Freundinnen. Und in der Türkei war
       ich die „Deutschländerin“. Zudem entstamme ich einer eher konservativen
       muslimischen Familie, in der es üblich ist, dass sich die Frauen
       hauptsächlich um die häuslichen Belange kümmern. Nach meinen Bedürfnissen
       wurde selten gefragt, und ich habe lange versucht, dem zu entsprechen, was
       von mir erwartet wurde.
       
       Sie waren oft in der Türkei? 
       
       In den Sommerferien. In den letzten Jahren aber nicht mehr. Es wurde mir zu
       mühsam, in eine Rolle gezwungen zu werden und meine Identität zu
       verleugnen.
       
       Was haben diese Erfahrungen mit den Popsongs zu tun, die Sie auf die Kelims
       sprühten? 
       
       Es sind Liedzeilen von Fiona Apple, Depeche Mode, Johnny Cash und José
       Gonzales, die ich in der Pubertät gehört habe. Sie handeln von Liebe,
       Sehnsucht, Identität – Themen, die auch die gleichaltrige Weberin des
       Kelims bewegt haben müssen. Dieser Link hat mich interessiert, denn das
       Leben zwischen den Kulturen war lange ein Identitätskonflikt für mich.
       
       Sie zeigen auch ein Hochzeitsvideo Ihrer Eltern, auf dem sich Ihr Vater dem
       Kuss der Mutter verweigert. Wieso? 
       
       Im Grunde wusste meine Mutter, die für die Heirat zum Islam konvertiert
       ist, dass ein Muslim nicht vor der Kamera geküsst werden will. Aber sie
       dachte wohl, sie könnte ihn in diesem romantischen Moment rumkriegen.
       
       Lachen Ihre Eltern heute über dieses Video? 
       
       Meine Eltern kommen regelmäßig zu den Vernissagen und können inzwischen
       beide darüber lachen. Mein Vater war anfangs skeptisch, als er mitbekam,
       dass ich auch mit intimem Material arbeite. Aber inzwischen hat er
       dazugelernt. Er hat sich als türkischer Mann in Deutschland ja auch
       emanzipiert.
       
       Und wie finden Ihre Eltern das Video „Körperprojektionen“, wo Sie nackt von
       osmanischen Mustern überdeckt werden? 
       
       Meine Mutter liebt diese Arbeiten und findet sie sehr ästhetisch. Mein
       Vater neigt dazu, daran vorbeizugehen und sie auszublenden.
       
       Wofür stehen die osmanischen Fliesenmuster? 
       
       Ich wollte zeigen, dass jede Form der Erziehung – ob es eine traditionell
       muslimische oder eine deutsche ist – Dinge in die Haut, den Körper, den
       Verstand, die Seele einschreibt. Sogar wenn wir sie ablehnen, prägen sie
       uns wie eine Tätowierung. Und zwar schützend und überwuchernd zugleich; das
       ist ambivalent.
       
       In einem anderen Video stempeln Sie sich den deutschen Bundesadler ins
       Gesicht. 
       
       Das „Abstempeln“ – zum Beispiel als Deutsche oder Türkin – geschieht ja
       normalerweise von außen. In diesem Video habe ich mich selbst ermächtigt,
       indem ich meine Identität scheinbar selbst wähle und sage: Ich bin Deutsche
       – und zack ins Gesicht damit. Aber durch die Überlagerung der
       Stempelabdrücke verschwindet das Gesicht, sodass der Vorgang ad absurdum
       geführt wird.
       
       Wie sehen Sie sich heute: als Deutsche oder als Türkin? 
       
       Diese Kategorien spielen keine Rolle mehr. Es gab sicherlich Phasen, in
       denen ich mich gegen das Türkischsein gewehrt habe, weil ich es als junge
       Frau anstrengend fand zu verstehen, welche Mechanismen da greifen. Heute
       belastet mich das nicht mehr. Ich finde es eher gut, dass ich so die
       Möglichkeit hatte, meinen Horizont zu erweitern und in eine Selbstreflexion
       zu kommen.
       
       3 Sep 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Petra Schellen
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Türkei
 (DIR) Kunst
       
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