# taz.de -- Die neue Verkleidung des „Urfaschismus“: Keine Ordnung, nirgends
       
       > Merkel als Heilige, Žižek in Fremdenangst: Die Merkmale des Faschismus
       > verschwimmen. Umberto Eco warnte 1995 vor seiner neuen Verkleidung.
       
 (IMG) Bild: Demonstration des rechtspopulistischen „Bürgerbündnis Deutschland“ in Rathenow am 5. März 2016
       
       Ich mag Twitter ja vor allem deshalb, weil Artikel, Gedanken und Bilder
       völlig unsortiert reinkommen. Eine ehrliche Informationsart, die nicht so
       tut, als könne man sich diese Welt noch zurechtsortieren, ohne sie in
       weiten Teilen von dem, was sich da draußen abspielt, abzuschneiden. In
       diesem Chaos schafft keiner mehr so leicht Ordnung. Und doch sehne ich mich
       nach so jemandem.
       
       In diese Twitter-Welt kommt plötzlich ein alter Artikel von Umberto Eco aus
       dem Jahr 1995, mit dem Titel „Urfaschismus“. Wer will so etwas heute noch
       lesen, frage ich mich, und lese es. Eco schreibt, wie das war, als junge
       Leute noch Aufsätze geschrieben haben, die Mussolini huldigten – um nur ein
       paar Jahre später, nach der Befreiung, an einem Zeitungskiosk zu stehen und
       zu bemerken, wie plötzlich mehrere Parteien zur Wahl stehen, Parteien, die
       es auch vorher gegeben haben muss, doch die der Faschismus klein gehalten
       hat. Kurz darauf analysiert er, weil er eben auch Wissenschaftler war, wie
       man den Faschismus erkennen kann, und ich gebe zu, die klaren Kategorien
       von 1995 helfen 2016 nur bedingt weiter.
       
       Der Urfaschismus sei immer noch um uns, aber manchmal unscheinbar
       verkleidet. Leichter erkennbar wäre das alles, schreibt er, träte jemand
       vor und verkündete: „Ich will ein zweites Auschwitz, ich will, dass die
       Schwarzhemden wieder über Italiens Plätze paradieren.“ Der Urfaschismus,
       warnt Eco, könne in der unschuldigsten Verkleidung wieder auftreten. Und
       dann zählt er vierzehn mögliche Punkte auf, die sich zum
       Kristallisationspunkt des Faschismus entwickeln können.
       
       ## Verkleideter Faschismus
       
       Ich lese das und verstehe, dass sich heute nichts so einfach verstehen
       lässt. Begriffe werden derzeit pervertiert, die Lager, zu denen man
       Menschen zählt, wechseln ohne Vorwarnung: Da predigt Merkel trotz ihrer
       Politik plötzlich Humanität, während der linke Philosoph Slavoj Žižek
       krawallt, dass Europa an seinem Mitgefühl für Flüchtlinge vom afrikanischen
       Kontinent untergehen könnte. Natürlich schiebt er hinterher, dass kein
       afrikanischer Flüchtling so schlimm sein kann für Europa wie der Front
       National oder Pegida. Wer, bitte, kriegt da noch Ordnung rein?
       
       Nun sind viele dieser möglichen Merkmale, von denen Eco spricht, derzeit
       nicht in der unschuldigsten Verkleidung vorzufinden. Wir haben die Sätze
       mit dem Schießbefehl landauf, landab diskutiert, als sei noch bei den
       letzten Auswüchsen von Inhumanität Argumentation notwendig. Statt „Merkmal
       für Urfaschismus“ zu schreien, wie Eco das nahelegt, haben viele sich auf
       die Diskussion eingelassen. Und zahlreiche Wähler dachten, sie müssten die
       Partei, in der das diskutiert wird, bei den Landtagswahlen in den
       zweistelligen Bereich hieven – als Schockstrategie für die Etablierten. Ist
       schon lustig, Demokratie: Manche verwechseln wählen wohl mit Schiffe
       versenken.
       
       Talkshows präsentieren ehemals grüne Wähler, die aus Protest AfD gewählt
       haben, und die Reaktion ist in weiten Teilen: „Mutig!“ Mutig, das waren für
       mich mal Menschen, die für eine gerechtere Welt auf die Straßen gingen und
       nicht für den Traum von der Festung Europa in die Talkshows. Die Mutlosen
       werden nun auch noch damit belohnt, dass die grüne Katrin Göring-Eckart sie
       alle einfangen will. Sind ja alles nur von der Einwanderung gekränkte
       Demokraten.
       
       ## Elitedenken
       
       Ein weiteres Beispiel: das Elitedenken. Für Eco ist Elitedenken reaktionär,
       ein Überbleibsel aristokratischer Welten und militärischer
       Organisationsstrukturen. Der Diskurs derzeit läuft jedoch so, dass jene,
       die als antidemokratisch bezeichnet werden, den Anti-Eliten-Diskurs führen,
       während die Eliten dasitzen und ihrem Volk erklären, wie gefährlich es ist,
       gegen die Eliten zu sein, denn irgendeiner muss den unbequemen und im
       Gegensatz zu Posten in der Wirtschaft schlecht bezahlten Job doch machen.
       Während die AfD wettert „Die da oben gegen euch“, sitzen viele Politiker da
       oben und behaupten weiter „Wir hier oben für euch“. Soll mir jetzt einer
       sagen, wer hier weniger demokratisch ist. Wenig fürchtet die repräsentative
       Demokratie so sehr wie das Plebiszit.
       
       Eco kritisiert eine Politik, in der das Volk nur noch die Rolle des Volkes
       zu spielen hat, Inszenierungen der Politik also – genau das, was die Wähler
       heutzutage aus den großen Volksparteien treibt. Oder nicht? Eco schreibt
       weiter und killt meinen Tag letztlich mit diesem Satz: „Für ein gutes
       Beispiel des qualitativen Populismus bedürfen wir nicht länger der Piazza
       Venezia in Rom oder des Nürnberger Parteitagsgeländes. In der Zukunft
       erwartet uns ein TV- oder Internet-Populismus, in dem die emotionale
       Reaktion einer ausgewählten Gruppe von Bürgern als Stimme des Volkes
       dargestellt und akzeptiert werden kann.“ Bam. Man denke nur an die
       Talkshows der letzten Monate.
       
       ## Sorgen, Ängste, Überdruss
       
       Pegida schreit „Lügenpresse!“ – und ich empöre mich. Gleichzeitig empöre
       ich mich über eine Presse, die Pegida und AfD so viel Öffentlichkeit bot,
       dass sie größer und stärker wurden, als sie hätten sein müssen. Die Sorgen,
       die Ängste – ich kann sie nicht mehr hören. Und merke an manchen Abenden,
       wie vor meinem Haus der öffentliche Raum sich verändert. Über Nacht prallt
       hier plötzlich eine Welt auf meine, die weniger von behütetem Zusammenleben
       weiß als die meisten hier. Ich merke in manchen Momenten, dass auch ich
       mich sorge. Und weigere mich, weiter zu denken.
       
       Das Eingeständnis, dass auch ich mich sorge, könnte den Falschen in die
       Hände spielen. Weil die Falschen nicht von vornherein durch einen Blick wie
       den Ecos demaskiert wurden als die, die sie wirklich sind: mögliche
       Kristallisationspunkte für faschistisches Denken. Im Moment dreht jeder
       jedem das Argument im Mund herum, ein Ende ist nicht in Sicht. Wie sind wir
       hier hingekommen? Ich bräuchte jetzt so einen 14-Punkte-Plan wie den von
       Umberto Eco, allerdings einen für Europa im Jahr 2016. Einen Plan, der klar
       sagt, was die möglichen Punkte für den Faschismus von heute sind, damit
       auch ich meine Ängste unbedarft äußern, meine Fragen an die Zustände von
       heute stellen kann. Ohne gleich Ideologen zuzuspielen, die genau auf diesen
       14-Punkte-Plan gehören.
       
       7 Apr 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jagoda Marinić
       
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