# taz.de -- Der Fall Duogynon: Wer sich nicht einschüchtern ließ
       
       > Der Pharmakonzern Schering versuchte jahrelang, Kritiker wie den Arzt
       > Ulrich Moebius mundtot zu machen. Dies belegen Archiv-Dokumente.
       
 (IMG) Bild: Ihm ist es mit zu verdanken, dass Duogynon vom Markt genommen wurde: der Arzt Ulrich Moebius im Januar 2016.
       
       Berlin taz | Ein halbes Jahrhundert ist es her, dass der Arzt Ulrich
       Moebius den Berliner Pharmakonzern Schering 1966 erzürnt verließ. Mit dem
       Vorsatz, nichts mehr zu tun haben zu wollen mit der Firma, für die er drei
       Jahre gearbeitet hatte. Aber als Ulrich Moebius jetzt, an einem Januarabend
       50 Jahre später, den Telefonhörer abnimmt daheim im Unterfränkischen, da
       ist der bald 78-jährige Mediziner schnell bereit, sich doch noch einmal in
       Rage zu reden – über „Duogynon, diese Dreckspille“.
       
       Duogynon, das war ein Hormonpräparat, das Schering 1950 auf den Markt
       gebracht hatte und bis 1981 unter wechselnden Namen in Europa verkaufte,
       gegen Menstruationsbeschwerden und als Schwangerschaftstest. Duogynon, das
       war das Medikament, das Ulrich Moebius von 1963 bis 1966 als Verkaufsagent
       für Schering in Irland, Österreich und der Schweiz Frauenärzten empfahl.
       Duogynon steht seit spätestens 1967 im Verdacht, verantwortlich zu sein für
       Missbildungen bei Ungeborenen.
       
       „Für die Firma war Duogynon ein money spinner, eine Innovation, nur ein,
       zwei Dragees zum Schlucken, unkomplizierter zu handhaben als alle
       bisherigen Schwangerschaftstests damals“, sagt Moebius. „Aber eben eine
       Hormonbombe, ausgerechnet für Schwangere, völlig idiotisch“, seine Stimme
       bebt, das alles ist lange her und regt ihn doch noch auf. „Ein Risiko“, er
       ruft es ins Telefon, „für die Kinder im Mutterleib.“
       
       ## Der knallharte Nachweis blieb aus
       
       Ulrich Moebius hat sich mit Schering später, in den 1970er und 1980er
       Jahren, da arbeitete er schon lange als Arzt in einem Krankenhaus, angelegt
       deswegen, mit Publikationen im pharmakritischen arznei-telegramm. Nur den
       einen knallharten Nachweis für seinen Verdacht, dass der Hormoncocktail aus
       Gestagenen und Östrogenen zu Fehlbildungen an Herz, Gliedmaßen, Genitalien
       und inneren Organen bei tausenden Ungeborenen geführt haben könnte, diesen
       Nachweis, es wurmt ihn bis heute, „konnten wir rückblickend nicht
       erbringen“.
       
       Auch weil klinische Arzneimittelstudien an Menschen oder Menschenaffen
       fehlten – sie waren damals gesetzlich gar nicht vorgeschrieben. Auch weil
       Schering mit Informationen geizte und besorgte Nachfragen von
       Wissenschaftlern und Ärzten abbügelte.
       
       Bis heute bestreitet die Bayer AG, die Schering 2006 übernahm, jeden
       Zusammenhang zwischen der Einnahme des Medikaments und den Schädigungen.
       Moebius sagt: „Bei Schering ahnten sie die Risiken schon in den 1960ern,
       aber sie haben sie negiert. Es war eine brutale Zeit.“ Er hält inne. „Gibt
       es denn etwas Neues“, fragt er dann.
       
       Schon.
       
       Seit 2015 gestattet das Landesarchiv Berlin Deutschen und Briten, die in
       den 1960er und 1970er Jahren mit schweren Missbildungen geboren wurden, den
       Zugang zu bislang geschützten Akten. Erstmals dürfen mutmaßlich
       Duogynon-Geschädigte Einsicht nehmen in vertrauliche Dokumente.
       
       Diese wurden Ende der 1970er Jahre von der Berliner Staatsanwaltschaft in
       einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren gegen Schering sichergestellt:
       Briefwechsel der Schering-Rechtsabteilung aus den 1960er und 1970er Jahren
       mit Ärzten. Mit Wissenschaftlern, spezialisiert auf die Erforschung von
       Ursachen embryonaler Fehlbildungen. Sowie Strategieüberlegungen des
       Konzerns zu Umsätzen – und zum Umgang mit Kritikern und Presse.
       
       ## Konzern blieb untätig
       
       Aus den Unterlagen, die der taz vorliegen, geht hervor, dass Schering um
       das Risiko einer fruchtschädigenden Wirkung von Duogynon seit Mitte der
       1960er Jahre wusste – auch aufgrund firmeneigener Versuche an Nagetieren.
       
       Leitende Schering-Mitarbeiter diskutieren daraufhin intern die potenziellen
       Gefahren des Medikaments. Doch anstatt den Verdacht durch aussagekräftigere
       Untersuchungen an Menschenaffen zu überprüfen, belässt es die Firma bei
       weiteren Studien an Ratten, Kaninchen und Mäusen, wegen der hohen Kosten
       und des zeitlichen Aufwands für Affenstudien. Und in der bizarren Hoffnung,
       eigene wissenschaftliche Untätigkeit könne die externen Kritiker zum
       Schweigen bringen – und einen Imageschaden von der Firma abwenden.
       
       Vergeblich. 1975 empfiehlt die medizinische Fachzeitschrift Ärztliche
       Praxis, „vor Progesteron-Östradiol-Medikation Schwangerschaft mit
       Sicherheit auszuschließen“. Eine alarmierte Mitarbeiterin der Klinischen
       Forschungsabteilung von Schering schreibt daraufhin an die „Pharma
       Deutschland Leitung“ der Firma: „Nach Durchsicht dieser schönen Abhandlung
       können Sie sich sicher vorstellen, daß ich einem Herzinfarkt recht nahe
       war.“ Beim Chefredakteur des Blattes solle nun auf eine „Richtigstellung“
       hingewirkt werden.
       
       Wenige Monate später, erneut sind Zweifel an Duogynon publik geworden,
       erinnert die Abteilung Medizinisch-Wissenschaftliche Information die
       Leitung von Pharma Deutschland, es gebe einen „Beschluß der
       Vertriebsleitung, nur dem Zwang der Behörden zu weichen“. Dieser gelte auch
       für den Fall, „daß im Herbst eine Publikation erscheinen werde, die die
       oralen Schwangerschaftstests verdammen wird“.
       
       ## „Er sinnt auf Rache“
       
       Einschüchterung statt Dialog, diese Strategie im Umgang mit der
       Öffentlichkeit wird Schering über Jahre verfolgen. Ende der 1970er Jahre
       notiert Schering über Wissenschaftler und in Großbritannien sogar über
       Parlamentsabgeordnete vertrauliche Beobachtungen für die Akten – getreu dem
       Motto: Wer nutzt, wer schadet dem Unternehmen?
       
       Auch über Ulrich Moebius, den unbequemen Exmitarbeiter, finden sich
       Einträge. Obwohl er seine Zweifel an dem Produkt in Fachzeitschriften
       öffentlich gemacht hatte, blieb das Präparat auf dem Markt. Im August 1978
       berichtet daraufhin die Schering-Rechtsabteilung „vertraulich“ an den
       Schering-Vorstand, „daß Herr Dr. Möbius [. . .] offenbar enttäuscht darüber
       ist, daß die Duogynon-Entscheidungen nicht in seinem Sinne ergangen sind“.
       Die Rechtsabteilung befürchtet: „Er sinnt auf Rache.“
       
       „Rache?“ Ulrich Moebius am Telefon, Januar 2016, lacht. 1978, erzählt er,
       das war die Zeit, als in Großbritannien und Deutschland Mütter geschädigter
       Kinder sich an Staatsanwaltschaften, Gerichte und die Presse wandten. Als
       in Deutschland endlich ein ernstzunehmendes Arzneimittelgesetz in Kraft
       trat. Als auch die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft vor
       möglichen Schädigungen Ungeborener durch Duogynon warnte. Kurz: 1978 wuchs
       der Druck auf Schering.
       
       ## Das Präparat wird umbenannt
       
       Der Hersteller indes nimmt bloß die Empfehlung als Schwangerschaftstest
       zurück und benennt das Präparat um. Duogynon heißt fortan Cumorit. Erst
       1981 wird Schering es ganz vom Markt nehmen. Rechtliche Konsequenzen
       bleiben aus, weil die Kausalität weiterhin nicht nachweisbar ist.
       
       Derweil verwendet die Firma Energie darauf, eine offene Auseinandersetzung
       über Duogynon zu unterbinden: „M. E. ist es nun auch für uns an der Zeit,
       Herrn Dr. Möbius überall dort Schwierigkeiten zu machen, wo dies möglich [.
       . .] ist“, schreibt die Rechtsabteilung 1978 an den Vorstand. Dieses Ziel
       dürfe auch mit fragwürdigen Methoden erreicht werden: „M. E. sollten wir [.
       . .] überlegen, ob wir einen Journalisten finden, den das Thema ‚Herr Dr.
       Möbius betreibt sein Geschäft mit der Angst‘ interessiert.“
       
       „Mich“, sagt Ulrich Moebius, „wundert das gar nicht. Für die war ich der
       Feind.“ Bis heute hat sich niemand von der Firma bei ihm entschuldigt. Die
       Bayer AG als Schering-Rechtsnachfolgerin lässt Fragen der taz zu
       Durchführung und Erfolg der damaligen Überlegungen, Ulrich Moebius
       Schwierigkeiten zu machen, unbeantwortet.
       
       ## Untersuchungsausschuss in Großbritannien
       
       In Großbritannien dagegen beschäftigen die Unterlagen aus dem Landesarchiv
       Berlin seit dem Herbst 2015 auch das Parlament. Der Gesundheitsausschuss
       soll rückblickend untersuchen, welche Risiken dem Unternehmen, aber auch
       den staatlichen Aufsichtsbehörden wann bekannt waren – und wer welche
       Konsequenzen daraus hätte ziehen müssen. Viele Betroffene hoffen neben der
       Aufklärung auch auf die Anerkennung von Schuld – wenn schon nicht im
       juristischen Sinne, dann doch moralisch. Es wäre ein Zeichen, wenn die
       Firma zugäbe, Fehler gemacht zu haben, auch im Umgang mit der
       Öffentlichkeit.
       
       Als der Stern Ende 1978 über mögliche Risiken durch Duogynon berichtet,
       schaltet Schering eine Kanzlei in Köln ein: „Der Vertrieb der (. . .)
       Stern-Nummer in England soll verhindert werden“, schreiben die Kölner
       Anwälte ihrer Auftraggeberin im November 1978.
       
       Ähnlich kaltschnäuzig begegnet das Unternehmen besorgten Ärzten. Die
       meisten bitten um Aufklärung, wie etwa ein Facharzt für Geburtshilfe aus
       Bayern, der 1978 an Schering nach Berlin schreibt: „Frau [. . .] hat 1967
       ein zentral geschädigtes Kind entbunden und nun im Stern gelesen, daß in
       England Zusammenhänge zwischen Duogynon und solchen Mißbildungen
       festgestellt wurden. [. . .] Das Kind leidet heute an einer linksseitigen
       Halbseitenlähmung, einem inneren Wasserkopf und einem Knickfuß.“
       
       Schering antwortet: „Nach den Erfahrungen, die uns die Massenmedien in den
       letzten Wochen beschert haben, wundern wir uns nicht mehr, wenn Menschen,
       die ein mißgebildetes Kind aufzuziehen haben, emotional reagieren und für
       erwiesen halten, was nicht einmal als Hypothese haltbar ist.“
       
       28 Jan 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Heike Haarhoff
       
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