# taz.de -- Sperrgebiet im Hamburger Bahnhofsviertel: Die „guten“ Freier bleiben weg
       
       > Seit 2012 kostet es in St. Georg ein Bußgeld, Prostituierte anzusprechen.
       > Heute ist die Kritik groß: Huren verarmen, die Gewalt nimmt zu.
       
 (IMG) Bild: Wenn PolizistInnen am Hansaplatz patrouillieren, müssen Sexarbeiterinnen fliehen - sonst wird‘s teuer.
       
       Hamburg taz | Einmal berichtet, dann vergessen: Immer wieder bleiben im
       journalistischen Alltag Themen auf der Strecke. Die taz.nord möchte mit der
       Serie „Der zweite Blick“ dranbleiben an Themen, die wir für wichtig halten:
       Missstände, die wir kritisiert haben, Reformideen und Menschen, die
       losgezogen sind, die Welt zu verändern.
       
       „Los, weg hier!“ Eben noch standen Lara und Romina* (Namen geändert) am
       Rande des Hansaplatzes im Hamburger Stadtteil St. Georg, nun wird es
       hektisch. Die jungen Frauen schnipsen ihre Zigarettenkippen auf den Boden,
       stolpern auf hohen Schuhen die Treppenstufen zum Eingang des Hansa-Treffs
       hinunter. In der verrauchten Kneipe lehnt Mehmet Simsit an der Theke. „Na,
       ist es wieder soweit?“ Er grinst.
       
       Für den Wirt gehören Szenen wie diese zum Alltag: Frauen, die hektisch zur
       Tür hereinstürmen und, so wie gerade Lara und Romina, vorsichtig durchs
       Fenster spähen. Bis die Luft rein ist. „Wann hauen die endlich ab?“ Romina
       macht ein grimmiges Gesicht. Die zwei Streifenpolizisten, die mitten auf
       dem Platz Personalien aufnehmen, lässt sie nicht aus den Augen. Die
       Prostituierte will keine Geldstrafe riskieren.
       
       ## Ein Sperrgebiet, das keinen schert
       
       St. Georg, der Stadtteil, der vor allem in Bahnhofsnähe als
       „Schmuddel-Viertel“ gilt, ist seit 1980 Sperrgebiet für Sexarbeit. Verstöße
       wurden lange nur exemplarisch geahndet, Bußgelder mussten nur die
       Prostituierten zahlen. 2012 wurden härtere Regeln eingeführt, auch für die
       Freier: Seither ist es verboten, „auf öffentlichen Straßen, Wegen, Plätzen
       und Anlagen sowie an sonstigen Orten, die von dort aus eingesehen werden
       können, zu Personen Kontakt aufzunehmen, um sexuelle Dienstleistungen gegen
       Entgelt zu vereinbaren“.
       
       So steht es in einer Verordnung des SPD-Senats. Im Klartext: Auch Freier
       werden bestraft, sie zahlen bis zu 5.000 Euro. Anfangs war das sogenannte
       Kontaktverbot heftig umstritten. Kritiker fürchteten schlechtere
       Arbeitsbedingungen für die Frauen. Und nun, fast vier Jahre später? Ein
       Rundgang durch St. Georg zeigt: Unbegründet waren diese Ängste nicht.
       
       Mehmet Simsit ist so etwas wie die gute Seele vom Hansaplatz. In seinen
       „Hansa-Treff“ kommen Prostituierte, die Hilfe brauchen – etwa, wenn sie
       einen Bußgeldbescheid bekommen haben. Angesprochen auf das Kontaktverbot
       wählt Simsit drastische Worte. „Die Frauen haben einen neuen Zuhälter: Die
       Stadt Hamburg!“ sagt er. „Wenn weniger Freier kommen, wird der Druck auf
       die Frauen größer. Viele kommen aus Osteuropa, können weder lesen noch
       schreiben. Aussicht auf einen anderen Job haben sie nicht.“
       
       Prostitution sei für diese Frauen der einzige Weg, um an schnelles Geld zu
       kommen. Und ein Teil davon geht gleich wieder drauf, um Bußgelder
       abbezahlen zu können. „Ihre Strafen zahlen sie in monatlichen 50-Euro-Raten
       ab. Wenn sie mehrmals erwischt werden, sitzen sie auf einem Schuldenberg
       und müssen noch mehr arbeiten“, sagt Simsit. Er ist sicher: „Durch das
       Kontaktverbot wird Prostitution hier verfestigt und verelendet.“
       
       Ein Eindruck, den Hilfsorganisationen wie Ragazza, eine Einrichtung für
       drogenabhängige Frauen und Prostituierte und das Diakonie-Projekt Café
       Sperrgebiet bestätigen. „Bei der Sozialarbeit zählen wir die Frauen, auch
       der Dialog mit der örtlichen Polizei zeigt, dass die Zahl der
       Straßenprostituierten konstant bei etwa 300 pro Quartal bleibt“, sagt
       Ingrid Stoll, Leiterin des Sperrgebiets. Eine Verdrängung des
       Straßenstrichs sei nicht zu beobachten.
       
       Und doch habe sich einiges geändert – zum Negativen. „Für die Frauen ist es
       viel schwieriger geworden, an Kunden zu kommen“, sagt Stoll. „Sie wurden
       verarmt, die Preise sind massiv gefallen“, sagt Stoll. Einmal
       Geschlechtsverkehr koste heute zwischen zehn und fünfzig Euro. Davon gingen
       noch die Kosten für ein Hotelzimmer ab, weil viele Frauen selbstständig
       arbeiteten.
       
       ## Gefährliche Sexpraktiken werden gefördert
       
       Und: Weil heute auf dem Straßenstrich alles schnell gehen muss, um nicht
       von Polizeibeamten erwischt zu werden, sind die Frauen großen Risiken
       ausgesetzt. „Oft gehen die Frauen ohne Vorgespräch mit einem Mann auf ein
       Hotelzimmer oder steigen direkt in ein fremdes Auto ein“, berichtet Gudrun
       Greb von Ragazza. Gefährliche Sexpraktiken, Übergriffe und Vergewaltigungen
       nehmen laut den Berichten der Sozialarbeiterinnen deutlich zu.
       
       „In den letzten Jahren gab es hier drei Vergewaltigungsserien an
       Prostituierten. Aber gerade wenn der Verkehr im Auto stattgefunden hat,
       sind die Täter schwer zu fassen. In Stundenhotels gibt es wenigstens noch
       Personal, das eingreifen oder eine Zeugenaussage machen kann“, sagt Stoll.
       Bei der Polizei gemeldet werden solche Übergriffe nur selten. „Wir
       ermutigen die Frauen zu einer Anzeige, aber viele haben Angst, selbst ins
       Visier zu geraten, etwa wegen ihres Drogenkonsums“, berichtet Greb.
       
       Die Innenbehörde wertet das Kontaktverbot als Erfolg. „Das Ziel, nicht nur
       gegen die Frauen vorzugehen, sondern auch Freier zu sanktionieren, haben
       wir erreicht“, sagt Hauke Carstensen von der Innenbehörde. Tatsächlich ist
       die Zahl der eingeleiteten Ordnungswidrigkeitsverfahren gegen Freier in den
       letzten Jahren gestiegen.
       
       Wurden im Jahr 2012 noch 206 Verfahren gegen die Männer eingeleitet, waren
       es in den Jahren 2013 und 2014 schon 553 und 721 Verfahren. 2015 wurden
       bisher 574 Verfahren eingeleitet. In 1.678 Fällen mussten Freier seit der
       Einführung des Kontaktverbots ein Bußgeld zahlen. Dies lag in den meisten
       Fällen bei 200 Euro. 
       
       Die Behörde setzt auf Abschreckung. „Es ist natürlich unangenehm, wenn die
       Männer einen Bußgeldbescheid in der Post haben und sich vor der Ehefrau
       rechtfertigen müssen“, sagt Carstensen. Die Statistik zeigt auch, dass
       Prostiuierte, die aufgrund der Sperrgebietsverordnung ebenfalls Bußgelder
       fürchten müssen, im Vergleich zu den Freiern seltener bestraft werden. Seit
       Anfang 2012 mussten sie in 708 Fällen Bußgelder zahlen, 1.614
       Ordnungswidrigkeitsverfahren wurden gegen die Frauen eingeleitet.
       
       Davon, dass Zivilfahnderinnen als „Lockvögel“ eingesetzt würden, um Freier
       zu fassen, könne keine Rede sein, sagt Carstensen, räumt aber ein:
       „Natürlich sind Beamte auch in Zivil unterwegs.“Es gebe viele weibliche und
       männliche verdeckte Ermittler, sagt Greb. „Oft geben sich eher männliche
       Beamte als Freier aus, gehen mit aufs Hotelzimmer und ziehen dort die
       Polizeimarke.
       
       Dass Freier wegbleiben, beobachtet zwar auch die Ragazza-Sozialarbeiterin.
       Das Problem: Nur die „guten“ Freier würden abgeschreckt, wie sie sagt. „Das
       sind brave Familienväter aus dem Hamburger Umland, die sich anständig
       benehmen.“ Andere Männer, die skrupelloser und oft gewalttätig seien, kämen
       jetzt erst recht.
       
       Prostitution ist aus St. Georg nicht verschwunden, das räumt auch die
       Innenbehörde ein. Doch Beschwerden über Lärm und das Ansprechen
       unbeteiligter Frauen und Mädchen auf offener Straße seien deutlich
       zurückgegangen. „Die Begleiterscheinungen der Prostitution wurden
       reduziert“, sagt Carstensen. Mit Anwohnerbeschwerden, vor allem im Umkreis
       des Hansaplatzes, hatte der Senat die Einführung des Kontaktverbots damals
       schließlich begründet.
       
       ## Die Gentrifizierung erhöht den Druck
       
       „Das sind immer die gleichen Leute“, sagt Mehmet Simsit dazu und rümpft die
       Nase. „Eine Handvoll Zugezogene, die ihre Wohnung als Spekulationsobjekt
       sehen.“ Emilia Mitrovic vom Ver.di-Fachbereich „Ratschlag Prostitution“
       lebt selbst in St. Georg. Verständnis für die Beschwerden hat sie nicht:
       „Sexarbeit hat in einem bunten Bahnhofsviertel lange Tradition und kann
       nicht einfach aus dem öffentlichen Bild verdrängt werden, das sollte man
       wissen, wenn man herzieht.“ So hätten die Frauen nicht nur unter der
       Repression der Polizei, sondern auch unter der Aufwertung des Viertels zu
       leiden.
       
       Gegen Zwangsprostitution und Zuhälterei anzugehen, sei im Rahmen der
       Verbotsregelungen nicht möglich, sagt Greb: „Das Klischee der
       minderjährigen Zwangsprostituierten findet man in St. Georg kaum.“
       Zuhälterei gebe es durchaus, sie überwiege aber nicht. Viele Frauen gingen
       freiwillig und selbstständig anschaffen, wobei dahinter oft große
       wirtschaftliche Not stehe.
       
       Ingrid Stoll vom „Sperrgebiet“ spricht sich für eine völlige Legalisierung
       aus: „Wir müssen Sexarbeit als Dienstleistung anerkennen,
       Sperrgebietsverordnung und Kontaktverbot endlich aufheben – so könnte in
       St. Georg auch gezielter gegen Menschenhandel vorgegangen werden.“ Und Greb
       bilanziert: „Alle, mit denen wir sprechen – Sozialarbeiter, Frauen,
       Gastwirte, auch Polizisten – sagen heute mehr denn je: Das Kontaktverbot
       verschlimmert die Situation und bringt gar nichts.“
       
       3 Jan 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Annika Lasarzik
       
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       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Attacke auf Kneipenbesitzer: Neue Härte auf St.Georg
       
       Ein Kneipenbetreiber wurde im Hamburger Stadtteil St. Georg von
       mutmaßlichen Drogendealern angegriffen. Jetzt sammelt er Unterschriften für
       ein Glasflaschenverbot.
       
 (DIR) Neues Prostitutionsgesetz in Frankreich: Geldstrafe für Freier
       
       Sexarbeit soll nicht mehr bestraft werden. Dennoch befürchten Kritiker,
       dass eine Verdrängung in den Untergrund droht.
       
 (DIR) Gesetzentwurf zur Zwangsprostitution: Freier sollen in den Knast
       
       Bisher müssen nur Zuhälter von Prostituierten mit einer Strafe rechnen,
       nicht die Männer, die mit den Frauen Sex haben. Justizminister Maas will
       das ändern.
       
 (DIR) Neues Prostituiertenschutzgesetz: Sex mit Anmeldung
       
       Die Koalition einigt sich auf den Entwurf eines
       Prostituiertenschutzgesetzes. Die Union hat sich bei der strittigen
       Anmeldepflicht durchgesetzt.
       
 (DIR) Gleichstellungsbeauftragte über Sexarbeit: „Schutz sieht anders aus“
       
       Prostituierte sollen mit einem neuen Gesetz mehr selbstbestimmen können.
       Die Gleichstellungsbeauftragte in Kiel befürchtet, dass das Gegenteil
       geschieht.
       
 (DIR) Amnesty International über Prostitution: „Kriminalisierung ist keine Lösung“
       
       Die Legalisierung sei nicht ideal, sagt Catherine Murphy. Um
       Sexarbeiterinnen besser zu schützen, müssten die Regierungen mit ihnen
       zusammenarbeiten.
       
 (DIR) Schwedens Prostitutionsbeauftragter: „Es gibt keine gute Prostitution“
       
       Gehört Sexarbeit „entkriminalisiert“, wie Amnesty International fordert?
       Oder sollte sie nach Schwedens Modell verboten werden? Das fordert Patrik
       Cederlöf.
       
 (DIR) Kommentar Amnesty zu Sexarbeit: Verbot schützt Prostituierte nicht
       
       Es gibt Prostitution, zum Teil auch Zwangsprostitution. Amnesty
       International erkennt diese Realität an – und handelt human und
       pragmatisch.
       
 (DIR) Sauberkeit statt Sex: Wer die Spuren beseitigt
       
       Der Kneipen-Betreiber Mehmet Simsit hat eine Putzfirma gegründet, um den
       Prostituierten in Hamburg-St.Georg eine Perspektive zu bieten.
       
 (DIR) Betriebsführung im Puff: Einmal wickeln 150 Euro
       
       Sexarbeiterinnen machen Öffentlichkeitsarbeit für ihre Sache. Das Interesse
       an ausgefallenen Dienstleistungen der Branche ist groß.
       
 (DIR) Prostitution: "Die Frauen werden bestraft und zahlen"
       
       In Hamburg sollen Bußgelder für Freier Straßenprostitution verhindern - und
       damit die Anwohner befrieden. Kritiker fürchten nun eine Verdrängung der
       Prostiuierten. Ein Streitgespräch
       
 (DIR) Sexarbeit in St. Georg: Kritik an Kontakt-Verbot für Freier
       
       Prostitutions-Expertinnen lehnen das geplante Kontaktverbot für Freier in
       St. Georg ab. Sie fordern einen Runden Tisch.