# taz.de -- Die Wahrheit: Der Altar meines Lebens
       
       > Eine Kirche. Irgendwo in Norditalien. Im düsteren Inneren brennen Kerzen.
       > Und es wartet etwas entdeckt zu werden. Etwas Befremdliches …
       
       Einst begleitete ich eine reiche alte Dame, die vor ihrem Tod noch einmal
       eine bestimmte Gegend in Norditalien aufsuchen wollte. Als ihr persönlicher
       Assistent kümmerte ich mich um alles Nötige, damit sie möglichst
       unbeschwert reisen konnte.
       
       Bevor wir unser Ziel erreichten, irgendwo in den Alpen, fühlte sich die
       alte Dame unpässlich. Es war nichts Ernstes, nach ein paar Tagen der Ruhe
       würde sie sich erholt haben. Bis dahin bedurfte sie meiner kaum. Ich lief
       im Ort umher, saß im Café und besichtigte alle Sehenswürdigkeiten. Es gab
       auch eine Kirche, und obwohl ich für Kirchen nie etwas übrig gehabt hatte,
       ging ich aus Langeweile doch hin. Architektonisch machte der für eine so
       kleine Ortschaft reichlich große Sakralbau einen misslungenen Eindruck auf
       mich. Ich fand, er sah aus, als wäre eine ungelenke Kinderzeichnung die
       Vorlage für seine Errichtung gewesen.
       
       Ein Flügel der Eingangstür stand offen, ich trat ein. Nur an wenigen
       Punkten des Innenraums brannten ein paar Kerzen, entsprechend schlecht
       konnte ich sehen. Es war vollkommen still. Außer mir schien sich kein
       Mensch in dieser Kirche aufzuhalten. Ich war kaum neugierig auf den Altar,
       im Gegenteil rechnete ich sogar damit, dass er sich als Enttäuschung
       erweisen würde, aber immerhin verging auf diese Weise die Zeit.
       
       Als ich dann vor ihm stand, bemühte ich mich, ihn pflichtschuldigst zu
       betrachten, so gut dies bei dem herrschenden Lichtmangel nur möglich war.
       Wie man mir gesagt hatte, handelte es sich bei diesem Altar angeblich um
       ein bedeutendes Werk sakraler Holzbildhauerkunst. Er wirkte wie aus einem
       einzigen Stück nussbaumfarbenen Holzes geschnitzt. Seine Höhe schätzte ich
       auf gut drei Meter. Die Vorderfront war in Dutzende guckkastenartiger
       Nischen unterteilt, und jede einzelne enthielt kleine Figuren, Häuser und
       diverse Gegenstände teils recht befremdlicher Art. So entstand der Eindruck
       verwirrender Fülle.
       
       Ich ging näher heran und betrachtete ein Bildfenster nach dem anderen. In
       typisch mittelalterlicher Manier waren darin Szenen dargestellt, die
       entgegen meiner Erwartung keinerlei religiösen Inhalt hatten, sondern
       ausschließlich Alltagssituationen wiederzugeben schienen. Ich begann mit
       denen in Augenhöhe befindlichen und arbeitete mich allmählich weiter nach
       unten vor. Bald hatte ich das irritierende Gefühl, was ich hier sah, sei
       mir eigentümlich vertraut – ohne mir allerdings erklären zu können,
       weshalb.
       
       Dieser Altar war mir bislang völlig unbekannt gewesen. Meine Empfindung,
       trotzdem alles irgendwoher zu kennen, blieb so lange vage, bis ich bei
       einem für das Mittelalter stark anachronistisch wirkenden Tableau plötzlich
       begriff: Das war eine Szene aus meinem Leben! Sie zeigte, wie ich nach der
       30. Fahrstunde aus dem Wagen stieg und den Unterricht abbrach.
       
       Auch sämtliche anderen Darstellungen ließen sich nun als Stationen meiner
       Biografie identifizieren. Bevor ich jedoch zu den Szenen in der Zukunft
       kam, wandte ich mich ab und rannte aus der Kirche.
       
       18 Dec 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Eugen Egner
       
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