# taz.de -- Die Wahrheit: Bahnhof mit Braunbär bei Nacht
       
       > Es ist spät, es ist dunkel. Jeden Augenblick könnte ein Zug kommen. Aber
       > es gibt keine Fahrpläne. Nur dieses große Tier, das weiß, wohin die Reise
       > geht …
       
       Es war schon Nacht, als ich mich am Bahnhof einfand, um heimzufahren. Kaum
       hatte ich die Halle des alten Gebäudes betreten, drang das Gerücht durch,
       ein Zug könne jeden Augenblick kommen. Auf solche Gerüchte war man
       angewiesen, seit es keine Fahrpläne mehr gab. Die Bahn hatte sie sowohl aus
       Einsparungsgründen abgeschafft als auch wegen der Unmöglichkeit, die
       leichtfertig gegebenen Terminversprechen zu halten.
       
       Die wartenden Fahrgäste rannten auf gut Glück zu den Bahnsteigen. Da auch
       ein riesiger Braunbär darunter war, hielt ich Abstand. Ich mochte es nicht,
       wenn riesige Braunbären eigenmächtig auftauchten. Dieser hier war
       sicherlich harmlos und wollte nur seinen Zug erreichen, trotzdem war mir in
       seiner Gegenwart nicht wohl.
       
       Niemand wusste, an welchem Bahnsteig die Einfahrt erfolgen würde,
       interessanterweise verließ man sich auf den Instinkt des Bären. Die Treppe,
       die er emporlief, musste die richtige sein, und die Menschen folgten ihm.
       Oben stand ein abfahrbereiter Personenzug altertümlicher Bauart. Nichts
       verriet, wohin er fahren würde; die Anzeigetafeln funktionierten nicht,
       Zugpersonal wurde eingespart, und der Lokführer war verstockt.
       
       Der Bär schien schon eingestiegen zu sein, ich sah ihn nirgends mehr. Auch
       alle anderen kletterten in einen der Wagen, ich jedoch konnte mich nicht
       dazu entschließen. Weder wusste ich, wohin die Fahrt gehen würde, noch fand
       ich es verlockend, mit einem frei laufenden Braunbären zu reisen. Nein,
       sagte ich mir, ein Rest von Vernunft muss selbst in einer solchen Lage
       walten, und stieg nicht ein.
       
       Der Zug fuhr ohne mich ab und ohne dass ich zu erkennen vermochte, in
       welche Richtung. Wahrscheinlich konnte ich rechts, links, Osten und Westen
       nicht mehr unterscheiden. So blieb ich allein auf dem Bahnsteig zurück.
       Weil ich unter diesen wenig schönen Umständen keine negative Einstellung
       zur Bahn entwickeln wollte, wiederholte ich viele Male den Satz: „Die
       Eisenbahn, die Eisenbahn, sie hat des Guten viel getan.“
       
       Trotzdem verlor ich die Hoffnung, es werde noch ein Zug in die mir gemäße
       Richtung fahren. In der Zeit, die ich hier durch sinnloses Warten verlor,
       konnte ich zu Fuß nach Hause gehen – vorausgesetzt, dass in der
       Zwischenzeit kein scherzhaftes Zumauern des Bahnhofs stattgefunden hatte
       und ich überhaupt hinaus konnte. Die Gefahr des scherzhaften Zumauerns
       bestand theoretisch immer. Dem Hauptbahnhof war es mehrere Male
       widerfahren, bis die Stadtväter ihn durch ein riesiges Loch im Boden
       ersetzt hatten.
       
       Ich lief die Treppe hinunter und zurück in die dunkle, leere Halle. Nichts
       war zugemauert. Die Glastür ließ sich ohne Weiteres öffnen, und ich
       gelangte hinaus. Auf dem Vorplatz warteten mehrere Taxen auf Millionäre.
       Die Fahrer standen beieinander und nannten die Digitalisierung einen der
       größten Fehler der Menschheitsgeschichte. Damit sprachen sie mir aus der
       Seele, und ich rief: „Nehmen wir uns ein Beispiel an den Braunbären. Sie
       brauchen keine Digitalisierung, und sie haben recht.“
       
       20 Oct 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Eugen Egner
       
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