# taz.de -- Türkischer Film „Sivas“: Ein neugieriger Rumtreiber
       
       > Der Regisseur Kaan Müjdeci erzählt in seinem Spielfilmdebüt „Sivas“ vom
       > Eigensinn eines anatolischen Jungen. Und von Hundekämpfen.
       
 (IMG) Bild: Sein Blick fordert auch den Dorflehrer jenseits der Mauer heraus: Dogan Izci als Aslan in „Sivas“.
       
       Der kleine Aslan möchte ein Mädchen beeindrucken. Er wählt dafür nicht die
       allerfeinsten Worte. „Ayse, gefällt dir mein Köter?“ Wenn Ayse den Köter
       gut findet, dann lässt sie das zumindest nicht deutlich erkennen. Die
       romantische Anbahnung bleibt ohne Erfolg. Eine sanfte Berührung mit den
       Händen mag die verehrungswürdige Schulkollegin nicht dulden. Sie rutscht
       weg von Aslan, und als er sie fragt, warum sie ihn nicht ranlässt, nicht
       einmal für die allerunschuldigste, kindliche Form von Nähe, dann nennt sie
       einen unwiderlegbaren Grund: „Darum.“ Eben.
       
       Dieses „Darum“, das zugleich willkürlich und fatalistisch ist, bildet den
       Refrain in Kaan Müjdecis Film „Sivas“. Das Wort selbst fällt nur noch ein
       einziges, zweites Mal, allerdings an entscheidender Stelle. Dazwischen aber
       schwebt es im Raum, als übermächtiger Eindruck einer Welt, in der die Dinge
       eben so sind, wie sie sind. Sie sind es, weil sie so sind, wie sie sind.
       Darum nämlich.
       
       Aslan will sich damit nicht abfinden Er will sich auch konkret nicht damit
       abfinden, dass in der Theateraufführung von „Schneewittchen und die sieben
       Zwerge“, das in der Schule (auf Erlass des Landratsamts!) einstudiert wird,
       einen Zwerg spielen soll, während der Sohn des Dorfvorstehers der Prinz
       sein darf.
       
       Die Prinzessin? Das ist natürlich Ayse. Aslan hat sich also nicht irgendein
       Mädchen für seine kindliche Passion ausgesucht. Er zielt hoch. Er ist, wie
       es scheint, der Einzige in dem Dorf Kucuknefes in einer rauen Gegend
       östlich von Ankara, der an den Verhältnissen rüttelt. So macht er sich auch
       einfach auf den Weg zum Haus des Lehrers, rührt naiv an dessen
       Privatsphäre, bei dem darauffolgenden Dialog steht eine riesige
       Satellitenschüssel zwischen ihnen. Sie steht wohl für den falschen Weg,
       sich mit den Verhältnissen nicht abzufinden.
       
       ## Einen Schritt weiter
       
       Aslan ist ein Romantiker nicht nur in seiner Liebe zu Ayse. Er ist
       jederzeit bereit, einen Schritt weiterzugehen als alle anderen. Er treibt
       sich herum, aber mit einer hartnäckigen Neugierde. So lässt er eines Tages,
       als er mit seinem Bruder Sahin zum Zeugen eines Hundeskampfes wird, den
       unterlegenen Hund, den alle schon für tot halten, nicht einfach liegen. Er
       wartet an seiner Seite, bis er ein Lebenszeichen vernimmt. Dann nimmt er
       ihn mit nach Hause. Er nennt ihn Sivas, wie die nächste größere Stadt.
       
       Dieser Name hat in der Türkei einen unangenehmen Klang, er erinnert an
       Brandanschläge auf Alewiten im Jahr 1993. Der Mensch zeigte sich dort als
       des Menschen Wolf.
       
       Kaan Müjdeci, geboren 1980 in Ankara, aber schon lange in Berlin-Kreuzberg
       zu Hause, macht keinerlei ausdrückliche Anstalten, seinem Film (es ist sein
       erster abendfüllender) einen allegorischen Sinn unterzuschieben. Er stellt
       sich auch so ein in dieser Geschichte von Kampfhunden, die es „mit vier,
       fünf Wölfen aufnehmen“ können, und die von ungerührten Erwachsenen und bald
       auch von Kindern aufeinander gehetzt werden.
       
       Dass Ayse ihn ignoriert, weil er sich nicht in seine Rolle fügen will, die
       eines kleinen Bauernsohns nämlich, das ist zumindest eine Möglichkeit. Und
       Aslan lässt sich korrumpieren. Sein „Köter“, den er mit Händen und Füßen
       verteidigt, beginnt wieder zu kämpfen. Allerdings kämpft Sivas nur für
       Aslan. Bald ist das ganze Dorf involviert, zum großen Fight um die
       (illegale) Meisterschaft der Türkei fahren sie mit dem Vorsteher. Für Aslan
       könnte es der größte Tag sein, aber er wird immer stiller.
       
       ## Keine Idealisierung
       
       Wie Müdjeci diese Expedition filmt, eine Fahrt in die Finsternis, gesehen
       vom Rücksitz des Wagens aus, mit dem beschränkten Blickfeld eines Kinds und
       eines Passagiers, der einfach mitgenommen wird, das ist charakteristisch
       für seinen Stil. Er überlässt sich ganz der Perspektive seines
       Protagonisten, ohne dabei orthodoxe Point-of-View-Shots zu strapazieren.
       Wir sind bei Aslan, aber so ein Kind geht ja in Wahrheit nicht einfach mit
       den sprichwörtlichen großen Augen durch die Welt. Es wird darin hin und her
       geschleudert, folgt Impulsen und schrickt vor Gefahr zurück, es durchschaut
       nichts und alles, und dafür findet sich in „Sivas“ eine kongeniale Form
       zwischen Unerschrockenheit und Verstörung.
       
       Die imposante winterliche Landschaft mit einem großen Himmel und ihren
       fernen Horizonten lässt die Figuren immer wieder winzig erscheinen, nicht
       nur der Knabe ist ausgesetzt, auch die Erwachsenen, deren Schutzbefohlener
       er nicht sein mag, sind es. „Sivas“ ist ein großer Film über die Natur des
       Menschen und über den Eigensinn, der darüber hinausführt.
       
       Wenn jemand von Kindern erzählt, dann ist die Versuchung groß, die kleinen
       Helden zu idealisieren. Kaan Müdjeci ist weit davon entfernt. Aslan und
       sein Hund (beide Darsteller, Doğan İzci und Çakır, werden in den Credits
       völlig zu Recht gleichwertig genannt) sind auch durch ihre Freundschaft
       nicht erhaben über die Verhältnisse, für die das Kämpfen der Hunde das
       Sinnbild ist. Aber Aslan ist am Ende doch einen entscheidenden Schritt
       weiter. Warum? Darum.
       
       2 Dec 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Bert Rebhandl
       
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