# taz.de -- Volkstrauertag und Kriegsgräber: „Graadselääd – jetzt erst recht!“
       
       > Jedes Jahr um diese Zeit zieht der Bund für Kriegsgräberfürsorge durch
       > die Straßen und sammelt. Ein Dorf in der Pfalz schert aus.
       
 (IMG) Bild: Exbürgermeister Walter Hoffmann hat die Resolution seines Dorfs initiiert.
       
       Niederhorbach taz | Das letzte Laub glänzt an den Rebstöcken, der Himmel
       ist blau, hinten liegt das Dorf. „Wie Frühling“, sagt Walter Hoffmann,
       blinzelt in den Himmel und weist auf seinen Wein. „Hoffmann’s Tropfen“
       steht auf dem Etikett. Der ehemalige Bürgermeister führt durch die
       Weinberge, seine und die der anderen aus Niederhorbach im Landkreis
       Südliche Weinstraße. Im Osten glitzert der Rhein, im Westen liegt der
       Pfälzer Wald. Zwischen sanfte Hügel schmiegt sich, wie in einem goldenen
       Bett, Niederhorbach, 800 Jahre alt, 500 Einwohner, kleine Höfe, viel
       Fachwerk. Ein lieblicher Ort. Angela Merkel wird trotzdem nicht kommen mit
       der Sammelbüchse in der Hand. Auch nicht Ursula von der Leyen oder Frank
       Walter Steinmeier. Und Joachim Gauck hat im vorigen Jahr bereits eine
       Absage geschickt.
       
       „Ich habe mir über Jahre die Hacken abgelaufen“, erzählt Hoffmann und
       stampft über die Hauptstraße. Man kann sich gut vorstellen, wie der
       67-Jährige, so wie jetzt, leicht nach vorn gebeugt, von Hof zu Hof gezogen
       ist, um für die Kriegsgräberfürsorge zu sammeln. Hoffmann stammt von hier.
       Er hat sich hochgearbeitet, vom Kleinbauernjungen zum Dozenten bei Siemens
       in Karlsruhe. Im Jahr 2010 wurde der Ruheständler zum Bürgermeister
       gewählt. Du hast doch jetzt Zeit, haben die Leute gesagt. Wenn Hoffmann in
       der Tür stand, haben sie das Portemonnaie aufgemacht.
       
       Damit ist Schluss. Vor einem Jahr hat dies der Gemeinderat einstimmig
       beschlossen. Und er hat eine Resolution verabschiedet. Sollen die Leute
       wissen, warum die Büchse nicht mehr rasselt. Nein, es geht nicht gegen den
       Volksbund deutsche Kriegsgräberfürsorge, stellen die Volksvertreter klar.
       Die Arbeit gegen das Vergessen sei richtig und wichtig. Deswegen rufen sie
       die Einwohner auf, das Geld zu überweisen. Aber wenn „etliche Vertreter
       unserer großen Politik“ meinen, Deutschland müsse „mit Mann und Material an
       internationalen Brandherden mitzündeln“, dann sollen sie in Zukunft selbst
       die Häuser abklappern, stellten die Gemeinderäte klar.
       
       ## Auslöser: die Sicherheitskonferenz München
       
       Mehr noch: „Wenn im Militärhaushalt Geld ist, um in fremde Kriege zu
       ziehen, dann ist erst recht Geld da, vorhandene und zwangsläufig
       hinzukommende Gräber gefallener Soldaten zu pflegen.“ Und sie schließen:
       „Krieg geht von deutschem Boden aus, wenn deutsche Soldaten in die Kriege
       der Welt getrieben werden, und wenn die deutsche Rüstungsindustrie
       erfolgreich ihrem Bombengeschäft nachgeht.“ Die Resolution haben sie dann
       an Bundespräsident Gauck geschickt, der auch Schirmherr des Volksbundes
       Deutsche Kriegsgräberfürsorge ist. Ganz schön viel Eigensinn für so ein
       kleines Dorf? Walter Hoffmann lächelt still.
       
       Am Abend füllt Hoffmann die Kelche mit Dornfelder aus Niederhorbach und
       lehnt sich in seinem Korbstuhl zurück. „Was mich aufgebracht hat, ist die
       Rede von Joachim Gauck auf der Münchner Sicherheitskonferenz voriges Jahr.“
       Hoffmann besitzt eine freundliche, gewinnende Art – ein Pfälzer, kein
       Hitzkopf. Er hat ein paar Unterlagen ausgebreitet, liest laut: „Wir sind
       auf dem Weg zu einer Form der Verantwortung, die wir noch nicht eingeübt
       haben.“ Er schüttelt den Kopf. Dann wandert sein Finger weiter: „Manchmal
       kann auch der Einsatz von Soldaten erforderlich sein.“ Plötzlich scheint
       die sonore Stimme von Joachim Gauck nachzuhallen. Walter Hoffmann ist
       aufgestanden. Glaubt man‘snoch? Ein ehemaliger Pastor redet vom Krieg.
       
       „Als der Struck sagte, die Sicherheit Deutschlands wird auch am Hindukusch
       verteidigt, also…„Hoffmann sucht kurz nach einer druckreifen Formulierung,
       lässt es dann bleiben. „Also das ist Verarschung.“ Nach dem 11. September
       2001 erweiterte SPD-Verteidigungsminister Peter Struck den Aktionsradius
       der Bundeswehr kurzerhand bis nach Afghanistan. Deutschland wird am
       Hindukusch verteidigt? Mit Milliarden von Euro? Mit Menschen und Material?
       Und dann kehren Verwundete, Traumatisierte, Tote heim? Und die Spitze des
       Staates nennt das „Verantwortung einüben“? Während der Volksbund deutscher
       Kriegsgräberfürsorge alljährlich Sammellisten, Argumentationshilfen und
       vorformulierte Reden zum Volkstrauertag durchs Land schickt? Das passt doch
       nicht zusammen.
       
       „Vorformulierte Reden habe ich nie benutzt“, versichert Hoffmann, wenn er
       auf den Friedhof beim Mahnmal für die Kriegstoten zur Feierstunde einlud.
       Es ist nicht so, dass den Leuten die Kriegstoten egal sind, hier, so nah am
       Elsass, wo selbst „70/71“, Bismarcks Krieg gegen Frankreich, noch präsent
       ist. Und wenn sie, wie manche behaupten, nur zu faul wären, mit der Büchse
       loszuziehen, dann hätten sie das Kuvert in den Papierkorb stecken können.
       „Nein, so billig machen wir es nicht.“
       
       ## Seelenverwandter Beck
       
       In der Küche dampfen Fleeschknepp mit Meerrettichsoße – eine Pfälzer
       Spezialität. Frau Hoffmann bittet zu Tisch. Es sind gekochte Fleischklöße,
       ähnlich den Königsberger Klopsen. „Deutschland am Hindukusch verteidigen“,
       brummt Hoffmann noch mal. „Übrigens, wer war der Erste, der gesagt hat, man
       müsse auch mit den Taliban reden?“ Kurze Pause. „Kurt Beck.“ Über den
       SPD-Parteivorsitzenden hergefallen seien sie 2007, als er vorschlug,
       gemäßigte Taliban zu einer Friedenskonferenz einzuladen. Da steckte die
       Bundeswehr schon fünf Jahre am Hindukusch fest. Als Provinzpolitiker habe
       man den Pfälzer abqualifiziert, einige Jahre später war das dann
       Regierungspolitik.
       
       Überhaupt scheint Beck so etwas wie ein Seelenverwandter für den
       parteilosen Hoffmann zu sein. Beck und Hoffmann – beide Jahrgang 1948/49,
       beide wollten 1966 in Bad Bergzabern die Mittlere Reife nachholen. Als
       Hoffmann sechs Wochen in der Weinlese war, verpasste er den Anschluss.
       Kurz, Beck hat’s geschafft. In Steinfeld, gleich nebenan, war Beck
       Bürgermeister, bevor er in die Landes- und Bundespolitik aufstieg.
       
       Spät am Abend, Hoffmann ist noch einmal ins Auto gestiegen und lenkt durch
       die schmale Hauptstraße. Im neuen Gemeindehaus brennt noch Licht. „Der
       Gemeinderat“, sagt Hoffmann. Er selbst ist raus, vor einem Monat haben sie
       ihn verabschiedet. Nach zwei Herzinfarkten war Schluss. Drinnen stimmen sie
       jetzt darüber ab, ob sie bei ihrer Resolution bleiben. Hoffmann stoppt kurz
       und blickt auf die Fenster. Viel Wehmut ist dabei.
       
       ## Heute sind es Drohnen
       
       Am nächsten Morgen sind die Gemeinderäte wieder bei der Arbeit. Ralf
       Lorenz, der neue Bürgermeister, ist Versicherungsmakler und hat am
       Jahresende mächtig zu tun. Winzer Bernd Mühlhäuser hat den Herd angeheizt,
       um aus Trester Schnaps zu brennen. Der Duft von Holzfeuer legt sich über
       das Dorf. Wird in diesem Jahr gesammelt? Nein, sagt Rainer Keller.
       Niederhorbach bleibt bei seinem Entschluss. Acht Ja-Stimmen, eine
       Enthaltung. Keller, 47 Jahre alt, ist Grafiker und hat ein kleines Büro am
       Dorfrand. Kurze Locken, grauer kurzer Bart, rundes Gesicht. Im Holzofen
       glimmt Glut. Für die Winzer gestaltet Keller Etiketten, für den
       Tourismusverband Prospekte. Keller ist der kreative Kopf.
       
       Er hat auch den Text für die Resolution formuliert. Warum? „Wir als
       Deutsche haben eine Verpflichtung, uns für den Frieden einzusetzen“, fängt
       er an und erzählt von seinem Großvater, der wohl in Russland in einem
       Kartoffelacker sein Ende gefunden hat. „Es hätte auch mich treffen können.“
       Im Kalten Krieg waren dann Franzosen und Amerikaner im Pfälzer Wald
       stationiert. Die Franzosen sind weg, die Amerikaner geblieben und von der
       Airbase Ramstein steuern sie heute Drohnen, hatte Hoffmann gesagt. „Damals
       im Kalten Krieg hatte ich noch geglaubt, dass wir die Guten sind“, sagt
       Keller. „Diesen Glauben habe ich nicht mehr.“
       
       ## Viel Zustimmung erhalten
       
       Kämpfe werden heutzutage als Einsätze mit „robustem Mandat“ oder gleich als
       „humanitäre Missionen“ verschleiert. Keller hatte gehofft, dass sich der
       Volksbund in dieser Angelegenheit auch zu Wort melden würde. Stattdessen
       hat sich der Vorsitzende der Kriegsgräberfürsorge von Rheinhessen-Pfalz
       tatsächlich sehr betroffen geäußert – aber nicht wegen der Politik in
       Berlin, sondern wegen der Renitenz in Niederhorbach. „Die Kriegsgräber sind
       die großen Prediger des Friedens“, zitierte er Albert Schweitzer.
       
       Überhaupt waren die Reaktionen letztes Jahr eindrucksvoll – Dutzende Mails,
       Leserbriefe, Kommentare. Fast alle zustimmend. Joachim Gauck ließ
       ausrichten, dass der Bundespräsident keinen „bestimmenden Einfluss auf den
       Etat des Bundes“ hat. Deswegen möchte er sich auch bei der Forderung
       enthalten, Mittel aus dem Militärhaushalt zugunsten der Volksbundarbeit
       umzuschichten. Und eine Mundartdichterin schickte aus Kaiserslautern sogar
       ein Gedicht auf Pfälzisch.
       
       Auch Rainer Keller pflegt das Pfälzische. Alljährlich zum Weinfest gibt er
       ein Heftchen mit Niederhorbacher Ausdrücken heraus. „Graadselääd!“ ist so
       ein Wort. Es ist die Niederhorbacher Variante des „Jetzt erst recht!“,
       erklärt Keller. Es bedeute „ein hartnäckiges Festhalten am eigenen Vorhaben
       und dessen willensstarke Entschlossenheit zur Umsetzung selbst widrigen
       Umständen zum Trotz“. Auf die Resolution übertragen heißt das wohl:
       Niederhorbach wird bei seiner Entscheidung bleiben. „Graadselääd!“ –
       Joachim Gauck könnt sich diesen Ausdruck langsam merken.
       
       15 Nov 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Thomas Gerlach
       
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