# taz.de -- Waffenruhe in der Ostukraine: Zum Urlaub nach Donezk
       
       > In der Ostukraine schweigen seit September die Waffen. Der Alltag in
       > Donezk ist ruhiger geworden. Friedlich ist es noch lange nicht. Ein
       > Besuch.
       
 (IMG) Bild: In dieser Donezker Wohnung sind im August noch die Granaten eingeschlagen. Jetzt ist Ruhe.
       
       Donezk taz | „Ich fahre nach Donezk, weil ich mich erholen will“,
       überrascht Inna und bekreuzigt sich, als der gelbe Bus von der Stadt
       Konstantinowka in Richtung Waffenstillstandslinie abfährt. Das Leben an der
       Front zwischen den Regierungstruppen und den Aufständischen kennt sie gut.
       Jetzt will sie von einem Krieg verschnaufen, den es offiziell gar nicht
       mehr gibt, da seit Anfang September ein Waffenstillstand gilt.
       
       Ist das nicht seltsam, sich ausgerechnet in der Hauptstadt der Separatisten
       zu erholen? Ganz und gar nicht! Inna schüttelt den Kopf. Sie wohne „im
       Frontgebiet“ und fast alle ihre Verwandten lebten auch dort – auf beiden
       Seiten der geschlängelten Linie, die seit dem Abkommen von Minsk im Februar
       2015 die „Volksrepubliken“ Lugansk und Donezk von der Ukraine trennt. „Von
       dem Waffenstillstand habe ich nichts bemerkt“, klagt sie. „Ich habe auch im
       September nachts kein Auge zugetan. Ich habe im Flur gesessen und gehofft,
       dass es uns nicht trifft.“
       
       Dicht an dicht stehen Koffer und Taschen im Gang des Busses. Eine Frau
       weint. Sie hat sich vor der Abfahrt lange von einem Mann in ukrainischer
       Uniform verabschiedet. Inna sitzt im Mittelgang, sie wollte keinen
       Fensterplatz. „Am Fenster kann man erkannt werden“, gibt sie zu bedenken.
       „Und wenn geschossen wird, kann ich mich nicht rechtzeitig auf den Boden
       werfen.“ Sie weiß, wovon sie spricht. „Sehen Sie sich mal die anderen
       Fahrgäste an, wie entspannt die hier sitzen.“ Fast wirkt sie etwas
       ungehalten. „Ich sage Ihnen, die Leute in Donezk haben doch überhaupt keine
       Ahnung vom Krieg! Die hören höchstens mal ein Bum-bum in der Ferne.“
       
       Inna hat leise geredet, jetzt aber, wo sich der Bus dem Checkpoint nähert,
       wird sie nervös. Sie scheint die Einzige zu sein. Alle anderen blicken
       erwartungsvoll auf die andere Seite der Grenze. Zwei Wochen werde sie in
       Donezk bleiben, erzählt Inna, um endlich wieder durchzuschlafen. „In
       Donezk, so haben mir meine Verwandten berichtet, ist tatsächlich
       Waffenstillstand.“ Inna wartet, bis die Uniformierten der ukrainischen
       Seite ihren Passierschein geprüft haben. „Wann ist das nur zu Ende?“,
       stöhnt sie leise. „Wissen Sie es?“
       
       ## Lenin auf Granit
       
       Donezk war für ukrainische Verhältnisse immer eine aufreizende Stadt.
       Geländewagen und Limousinen, größer und schwerer als in Kiew, schossen über
       den Asphalt und kündeten vom Reichtum und Selbstbewusstsein der
       Millionenstadt. In Donezk hatten die Restaurants schon immer bis nach
       Mitternacht geöffnet. Mittelpunkt der Stadt ist der Leninplatz mit seinem
       bronzenen Lenin, der auf einem Granitpostament thront, Gesamthöhe mehr als
       13 Meter.
       
       Hier unter der mächtigen Skulptur haben die Donezker immer demonstriert,
       wenn es gegen Kiew ging – gegen die orangene Revolution, gegen den
       Euro-Maidan, für die Loslösung von Kiew. Dem revolutionären Ensemble
       gegenüber lädt in einem Keller die Bierkneipe „Tirol“ ein. Nach den
       Protesten war das Lokal Treffpunkt der Demonstranten und Organisatoren.
       
       Dutzende Stufen führt die Treppe hinab. Im Halbdunkel kann man Sofas und
       Tische erkennen. Vor zwei Jahren war hier jeden Abend die Tanzfläche voll,
       jetzt ist die Kellnerin überrascht, dass plötzlich Gäste in der Tür stehen.
       Flink werden sie platziert. Bei Bier und Capuccino streiten sich bald vier
       Gestalten über Krieg und Frieden, drei Männer, eine Frau. Ein Lämpchen
       taucht die Gesellschaft in ein spärliches Licht. Es wirkt wie eine
       Verschwörung.
       
       ## Eine Kluft aus Blut
       
       „Zwischen uns und der Ukraine eines Petro Poroschenko ist eine große Kluft.
       Und in dieser Kluft ist unser Blut“, hebt Raschid an, der sich als
       Politologe vorgestellt hat. „Ich trau ihnen nicht. Niemals werden wir
       wieder in dieser Ukraine leben können“, fährt er beschwörend fort. Alle
       dort seien Nationalisten, hier aber lebten die Menschen friedlich zusammen.
       
       „Ich selbst bin Krimtatare. Viele meiner Freunde sind Aserbaidschaner oder
       Georgier. Wir alle sind gegen Faschismus, und deswegen leben hier Dutzende
       Nationalitäten friedlich zusammen“, bekräftigt Raschid, der sich seine
       Brötchen derzeit mit Schmuggel verdient. Er nimmt auch Kreditkarten mit auf
       seine Reisen „in die Ukraine“, um dort für die Besitzer Geld abzuheben. Der
       bärtige Mann, der wie ein Erstsemesterstudent wirkt, lächelt charmant. An
       Selbstzweifeln scheint er nicht zu leiden. Die Zukunft der
       Separatistengebiete liegt für ihn im Osten: „Langfristig können wir nur
       überleben, wenn wir uns Russland anschließen.“
       
       Poroschenko selbst sei für einen Waffenstillstand, sagt ein anderer am
       Tisch. „Doch kann er sich nicht durchsetzen gegen den rechten Sektor.“ Er
       selbst wolle nicht in einem Staat leben, in dem Oligarchen das Sagen
       hätten. Und dann noch die regelmäßigen Fackelzüge der Rechtsradikalen auf
       dem Maidan! Der Mann greift nach seinem Bier. Nein, in diesem Staat wolle
       er nicht leben.
       
       ## „Wir müssen die Regierung in Kiew stürzen!“
       
       „Wir wurden bombardiert aus Flugzeugen und Hubschraubern. Unsere Jungs
       haben ihr Leben für uns geopfert. Und jetzt sollen wir mit Kiew gemeinsame
       Sache machen? Nein!“, ruft jetzt Natalja. Sie hat schon die ersten
       Demonstrationen für eine Abspaltung von Kiew unter dem Lenin mit
       organisiert. „Kiew nutzt doch nur den Waffenstillstand, um die eigenen
       Truppen zusammenzuziehen“, unkt sie. „Wenn wir wirklich Frieden wollen,
       müssen wir die Regierung in Kiew stürzen!“ Nach dem energischen Appell
       eilen die vier die Stufen hinauf.
       
       „Ich habe mir das alles mit angehört.“ Die Kellnerin, die so teilnahmslos
       gewirkt hat, fängt plötzlich an zu reden. „Nicht alle denken so.“ Aus ihren
       Augen spricht kein Hass, auch keine Angst, eher Bestürzung. „Auch ich habe
       bei den Luftangriffen voriges Jahr im August meine Fenster mit Plastikfolie
       zukleben müssen“, erzählt sie. „Schuld an dem Blutvergießen ist doch die
       russische Politik. Warum brauchen wir russische Soldaten hier?“ Sie sehe
       sie jeden Morgen im Hotel in ihrer Nachbarschaft. „Sie haben doch das Feuer
       der ukrainischen Seite erst auf uns gezogen. Vielleicht ist jetzt ja Ruhe
       hier, weil sie nicht gleichzeitig hier und in Syrien Krieg führen können.“
       
       Nicht nur in den Restaurants läuft es mau, viele Geschäfte in Donezk sind
       geschlossen. Auch Banken und Geldautomaten arbeiten nicht. Immerhin, die
       Supermärkte sind geöffnet. Die Regale präsentieren Lebensmittel,
       Schreibwaren – und jede Menge Alkohol. Verkaufsschlager ist Krimsekt der
       Marke „Sowjetisch“. Als ob es einen verborgenen Grund zum Feiern gäbe,
       kaufen viele eine Flasche Sekt.
       
       ## Im „Republikanischen Supermarkt“
       
       „Wie lange leben Sie eigentlich schon hier?“, fragt die Verkäuferin im
       „Ersten Republikanischen Supermarkt“ in ihrer rot-blauen Bluse den Kunden,
       der sein Obst mit ukrainischer Hrywnia bezahlen will. Dann lacht sie. „Hat
       sich wohl noch nicht bis zu Ihnen herumgesprochen, dass man hier mit Rubel
       zahlt?“ Ein Besucher aus Kiew? Sie horcht auf. Der Laden ist leer. Es gibt
       mehr Verkäuferinnen als Kunden.
       
       Innerhalb der letzten zwölf Monate hat sich die Einwohnerzahl der Stadt
       halbiert. Daher ist ein Kunde aus Kiew ein willkommener Zeitvertreib. Sie
       sagt, dass sie Ludmilla heißt, und beginnt zu erzählen. Anfang 2014 habe
       der Supermarkt noch ATB geheißen und war von Kiew aus geleitet worden. Doch
       dann entschieden sich die Machthaber der „Volksrepublik“, den Supermarkt zu
       enteignen und umzubenennen.
       
       „Und wie denken die Leute in Kiew über uns? Hassen Sie uns? Stimmt es, dass
       man in Kiew nicht mehr russisch reden darf? Sind dort wirklich alle jungen
       Leute beim Rechten Sektor?“ Ludmilla saugt alles auf, was sie über Kiew
       hört. Sie sei schon lange nicht mehr dort gewesen, aber sie habe große
       Sehnsucht nach dieser Stadt. „Und jetzt sind wir Feinde“, sinniert sie.
       „Wirklich, ich hatte sehr gute Freunde dort.“
       
       ## Eine künstliche Abwertung
       
       Bald verrät sie, dass das ukrainische Geld keineswegs verboten sei.
       Allerdings müsse sie als Kassiererin mit einem Kurs von eins zu zwei
       rechnen, während man für eine Hrywnia in den Wechselstuben drei Rubel
       bekomme. Angesichts dieser künstlichen Abwertung sei das ukrainische Geld
       in Donezk und Lugansk fast überall durch den Rubel ersetzt worden.
       
       Und nun klagt Ludmilla über die Preise. Alles sei fast zweimal so teuer wie
       in der Ukraine. „Wir hatten uns bei einer Loslösung von Kiew erhofft, dass
       wir Gehälter und Renten wie in Russland und Preise wie in der Ukraine haben
       werden. Nun ist es umgekehrt.“
       
       Deswegen würden viele Familien selbst Kartoffeln und Kohl anbauen. Bei der
       Anreise sind die vielen Datschen am Stadtrand aufgefallen. Sie stehen
       frisch lackiert, als ob ihnen der Krieg nichts habe anhaben können. Auch
       die Ernte gedeiht. In dem Meer von Häuschen und Gärten wird klar, dass die
       Metropole auf Selbstversorgung umgestellt hat. Langweilig sei es in der
       Stadt auch geworden, seufzt Ludmilla. Kaum noch Bars, die geöffnet hätten.
       Und ab 23 Uhr ist Ausgangssperre.
       
       Ein Blick auf die Hochhäuser am Abend lässt ahnen, wie leer die Stadt
       geworden ist. Nur in jeder dritten, vierten Wohnung brennt Licht. Und nach
       23 Uhr liegt eine Stille über Donezk, als hätte es sich in ein Dorf
       verwandelt. Inna, die Frau, die sich im Bus bekreuzigt hat, findet endlich
       ihren Schlaf.
       
       22 Oct 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Bernhard Clasen
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Donbass
 (DIR) Donezk
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) Ukraine
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR)  taz на русском языке
 (DIR)  taz на русском языке
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) Kommunalwahlen
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) Ukraine
 (DIR) Ukraine
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Ukrainisch-russische Beziehungen: Putins Mann auf Kurzbesuch in Kiew
       
       Boris Gryslow, Berater des russischen Präsidenten, bereitet Gespräche zur
       Lösung der Krise im Donbass vor – angeblich.
       
 (DIR) Krieg in der Ostukraine: Mit Puppen gegen Minen
       
       Überall liegen Minen und nicht explodierte Munition: Mit einem
       Theaterprojekt werden Kinder über die Gefahren von Blindgängern aufgeklärt.
       
 (DIR) Ukrainischer Botschafter Andrij Melnyk: „Zum Erfolg verdammt!“
       
       Am Freitag beraten die Außenminister Deutschlands, Frankreichs, Russlands
       und der Ukraine über die Krise. Andrij Melnyk über Strategien und
       Perspektiven.
       
 (DIR) Verhaftungen in der Ukraine: Nationalstaat gegen Nationalisten
       
       Vor den Stichwahlen am 15. November will die ukrainische Regierung das
       politische Terrain bereinigen. Mit drastischen Mitteln.
       
 (DIR) Kommunalwahl in der Ukraine: Wenige Wähler, viele Probleme
       
       Bei der Kommunalwahl gehen Sitze an eine Vielzahl von Parteien. Doch die
       1,5 Millionen Binnenflüchtlinge durften gar nicht erst mit abstimmen.
       
 (DIR) Kommunalwahlen in der Ukraine: Keine Wahlen entlang der Front
       
       In zwei Großstädten in der Ostukraine mussten die Wahllokale geschlossen
       bleiben. Die Abstimmung gilt als Testwahl für Präsident Petro Poroschenko.
       
 (DIR) Kommunalwahlen in der Ukraine: Kostenlose Gräber als Wahlgeschenk
       
       Zwei Oligarchen-Kandidaten kämpfen am Sonntag um das Bürgermeisteramt in
       Dnipropetrowsk. Auch ein unabhängiger Kandidat mischt mit.
       
 (DIR) Verschiebung der Kommunalwahlen: Der Donbass stimmt erst 2016 ab
       
       Prorussische Rebellen stimmen der von Kiew geforderten Wahlverschiebung zu,
       fordern jedoch einen Sonderstatus für Donezk und Lugansk.
       
 (DIR) Politikerin aus Slowjansk über ihre U-Haft: „Ich werde Präsidentin der Ukraine!“
       
       Nelja Schtepa, ehemalige Bürgermeisterin von Slowjansk, über ihre
       Verschleppung und Oligarchen, die den Krieg finanzieren.
       
 (DIR) Debatte Ukraine-Konflikt: Heißer oder kalter Krieg
       
       Eine Umsetzung des Minsker Abkommens vom Februar ist und bleibt ein
       Phantasma. Ein anderer Konflikt zeigt, dass die Lösung einfach sein könnte.