# taz.de -- Trend „Extreme Phone Pinching“: Drop it like it‘s hot
       
       > Jugendliche lassen Smartphones über Abgründen baumeln. Das Video stellen
       > sie online. Alle drehen durch. WTF?!
       
 (IMG) Bild: Der neue heiße Scheiß im Netz.
       
       ## Die Angst vor dem Fall
       
       „Be careful. Oh my god.“ „Don’t do that!“ „Stop it!“ „Nooooo!“ [1][Wenn
       Menschen ihre Smartphones über Abgründe halten], rasten alle aus. Doch es
       müssen gar keine Smartphones sein, keine digitalen Identitätsträger, die in
       Gefahr gebracht werden.
       
       Es reicht ein Taschentuch. Ein Streichholz. Eine Armbanduhr. Baumeln sie
       über Abgründen – und sei es mit größtmöglicher Vorsicht fest umklammert von
       allen fünf Fingern – entwickeln sich menschliche Urängste. Denn alles, was
       von Schwerkraft angezogen wird und keinen nahen Boden unter sich hat,
       könnte fallen. Sehr tief fallen. Verschwinden, für immer.
       
       Die Knie werden weich. Schweißtropfen bilden sich auf der Stirn. Vor dem
       inneren Auge ein langer Fall. Unendlich lang. Der Fachbegriff für die
       Angst, dass Dinge fallen könnten? Keine Ahnung. Durchsucht man die beinahe
       unendlich langen Phobie-Listen, findet sich diese Angst nicht (dafür aber
       Angst vor Knoblauch: Alliumphobie, Angst vor Nasenbluten: Epistaxiophobie
       und Angst vor Staub: Koniophobie).
       
       Wahrscheinlich, weil die Angst, dass Dinge fallen könnten, sehr nah
       verbunden ist mit Höhenangst und Flugangst. Heißluftballonfahrt? Niemals!
       Heiße Luft kann nichts tragen. Bungeejumping? Niemals! Ein Seil kann
       reißen. Sitzen auf alten Burgmauern? Niemals! Ein Windstoß könnte kommen.
       Der Mensch ist einfach nicht zum Fliegen da. Und auch Taschentücher,
       Streichhölzer und Armbanduhren nicht. Und was nicht fliegen soll, das soll
       auch nicht fallen.
       
       VON PAUL WRUSCH
       
       ***
       
       ## Alles Nomophobiker
       
       Was ist denn plötzlich los mit der ach so autarken Jugend, die sonst doch
       besonders durch die Beherrschung der Technik auffällt? Kreischen, als ging
       es aufs Schafott, weil ein winziges Gerät namens Telefon, äh, sorry, Handy,
       oh Pardon, Smartphone in Gefahr ist. Seid ihr denn völlig närrisch?
       
       Ja, sagen Forscher, das ist nicht gesund. Angeblich gehören die in den
       Videos demonstrierten Symptome zu einem Krankheitsbild, das nach einer
       britischen Studie 2008 „Nomophobia“ getauft wurde. Das steht für
       „No-Mobile-Phone-Phobia“, also die Angst, ohne sein Handy zu sein.
       
       Schon 2012 konnten anhand weiterer Studien ganze 77 Prozent aller Teenager
       als „nomophob“ eingestuft werden. Wobei auch Erwachsene betroffen sind. Nur
       würden Ü-25-Jährige vielleicht nicht nur passiv schreien, wenn ihnen das
       Smartphone entrissen und baumelnd über eine Brüstung gehalten wird. Na ja,
       vielleicht doch.
       
       Jetzt gibt es auf jeden Fall die Möglichkeit sich selbst auf Nomophobie zu
       testen. Forscher der Iowa State University entwickelten einen Fragebogen,
       um denjenigen, die Furcht haben an dieser ominösen Krankheit zu leiden,
       Klarheit zu geben. 20 Statements gilt es da mit Zahlen von 1 (keine
       Übereinstimmung) bis 7 (stimmt genau!) zu beantworten. Ein Beispiel: „Ich
       habe ständig Angst, dass meine Handybatterie leergeht.“ Tja. Wer sich
       selbst gerade dabei ertappt, wie er mit der Hand nach dem Smartphone
       greift, um den Batteriestatus zu prüfen: Sorgen machen!
       
       VON TATJANA KENNEDY
       
       ***
       
       ## Dämlich, aber ungefährlich
       
       Dass Jugendliche in hormongesteuerten Phasen auf seltsame oder selten dumme
       Ideen kommen, liegt in der Natur der Sache. Da hat jeder seine Leichen im
       Keller. Doch die ständige Verfügbarkeit technischer Möglichkeiten, die
       heute sicherstellen, dass die Dummheiten festgehalten und für alle Zeiten
       aufbewahrt werden können, feuern den Hang zu Schnapsideen zusätzlich an.
       
       Eine harmlosere Variante, die vor einiger Zeit das Internet überschwemmte,
       war [2][„Planking“]. Dabei werden Personen fotografiert, während sie mit
       dem Gesicht nach unten und seitlich angelegten Armen, steif wie ein Brett,
       auf Gegenständen oder Flächen liegen – bevorzugt an öffentlichen Orten.
       Sieht so dämlich aus, wie es sich anhört – aber wem’s gefällt, tut ja
       keinem weh. Man muss dazu sagen: Das hat auch Erwachsene begeistert.
       
       Aber es gibt auch wesentlich gefährlichere Varianten der jugendlichen Suche
       nach Aufmerksamkeit und Adrenalin, die nun nicht unbedingt für ein
       Wahlrecht ab 16 sprechen. Etwa das S-Bahn-Surfen oder das Ohnmachtsspiel.
       Bei diesem „Spiel“ strangulieren sich Teenies so lange selbst, bis sie
       ohnmächtig werden. Warum? Das weiß kein Mensch – Wikipedia erklärt es mit
       einem euphorischem Gefühl beim Aufwachen. Extreme Phone Pinching ist außer
       dumm eigentlich ungefährlich. Nur die Geldbörse der Eltern leidet, wenn das
       Smartphone doch fällt. In diesem Fall könnte man mal überlegen, ob es in
       Zukunft nicht auch ein alter Nokia-Riegel tut – oder eine Telefonzelle.
       
       VON SASKIA HÖDL
       
       ***
       
       ## Eine Erweiterung unseres geistigen Selbsts
       
       Der Nervenkitzel des möglichen Smartphone-Verlusts zeigt, wie eng wir mit
       den Geräten bereits verknüpft sind. Verstehen wir Cyborgs als „Organismen,
       denen körperfremde Teile hinzugefügt werden, um sich an neue Umwelten
       anzupassen“, dann sind wir schon welche. Smartphones helfen uns längst, in
       einer dezentralisierten Welt Platz und Kontakte zu finden. Fährt man
       U-Bahn, sind die Sitze voll von Menschen, die auf Bildschirme starren. Was
       vollkommen isoliert aussieht. Doch da wird heftig sozial interagiert:
       Treffen mit Freunden organisiert, rumgealbert, Mails gelesen.
       
       Die Cyborg-Anthropologin Amber Case sieht das Smartphone als eine
       Erweiterung unseres geistigen Selbsts. Ein ausgelagerter Speicher. Vor
       allem aber eine Technologie, die Zeit und Raum falten kann: weil selbst von
       der einsamsten Bergspitze aus der Kontakt zu unseren Liebsten nur ein paar
       Fingertipps entfernt ist. Und selbst wenn wir nicht da sind, stehen unsere
       digitalen Avatare ständig als Ansprechpartner bereit. Alles Verpasste
       können wir abrufen, wenn es uns passt. Mentale Wurmlöcher in unserer
       Hosentasche, nennt Case das.
       
       Gerade Jugendlichen bietet das in bislang ungekannter Form Auswege, um die
       Gleichaltrige in den Neunzigern sie brennend beneidet hätten, als sie
       gefangen in der Provinz an Dorftankstellen abhingen.
       
       Extreme Phone Pinching ist eine ironische Form der Selbstvergewisserung,
       wie schmerzhaft es wäre, diese digitale Erweiterung unseres Selbsts zu
       verlieren. Leben am Limit: Eine winzige Muskelzuckung, und alles wäre weg:
       Telefonnummern, Chatprotokolle, Filme, Fotos, Mails. Und der Zugriff aufs
       Internet. Nicht der potenzielle Verlust des Minicomputers ist es, der das
       zum Nervenkitzel macht. Denn: Wertvoll wird das Gerät erst in Kombination
       mit allem Ich und Wir, das über Monate und Jahre eingefüttert wurde. Der
       Stunt ist eine Art geistiges Bungeejumping. Nur billiger. Mit der Gefahr,
       durch einen einzigen Windstoß mit dem Finger vom Gerät abzugleiten. Und
       plötzlich isoliert zu sein.
       
       VON MEIKE LAAFF
       
       18 Oct 2015
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.youtube.com/watch?v=LHtJvCs7ogw
 (DIR) [2] https://www.youtube.com/watch?v=pPH6pleCKj0
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Paul Wrusch
 (DIR) Tatjana Kennedy
 (DIR) Saskia Hödl
 (DIR) Meike Laaff
       
       ## TAGS
       
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