# taz.de -- Buch über Faschismus in der Türkei: Nettsein als revolutionärer Akt
       
       > Die Autorin Ece Temelkuran sieht die Türkei in „Euphorie und Wehmut“ auf
       > dem Weg in die Gewalt. Sie setzt auf die Zivilgesellschaft.
       
 (IMG) Bild: „Wir haben genug von dem islamischen Faschismus Erdoğans“, skandierten die Gezi-Protestanten 2013.
       
       „Faschismus!“ Mit diesem Standardvorwurf geißeln die Kemalisten rituell die
       Herrschaft der muslimisch-konservativen AKP in der Türkei. Inzwischen
       grassiert diese Angst aber auch in der Zivilgesellschaft. „Wir haben genug
       von dem islamischen Faschismus Erdoğans“, skandierten die Gezi-Protestanten
       2013.
       
       In der Türkei überziehen sich die politischen Lager derart inflationär mit
       dem F-Wort, dass man aufhorcht, wenn eine kritische Publizistin nun in
       dieselbe Kerbe schlägt. „Euphorie und Wehmut“, das jüngste Buch der viel
       gelesenen Schriftstellerin und Journalistin Ece Temelkuran, läuft auf
       nichts weniger als den Vorwurf hinaus, in ihrer Heimat breite sich
       Faschismus aus.
       
       Der Titel ihres Werks signalisiert schon, dass ihr Buch mehr eine subjektiv
       gefärbte Streitschrift als eine strenge Analyse ist. Dennoch trifft die
       undogmatische Linke, Jahrgang 1973, einen neuralgischen Punkt, wenn sie den
       türkischen einen „schleichenden Faschismus“ nennt – weil er „das Wesen der
       Menschen in Richtung Wahn justiert“.
       
       Temelkuran bemüht Hannah Arendts Wort von der „Gleichschaltung“. Das trifft
       auf das AKP-Ziel einer muslimisch grundierten „Gehorsamsgesellschaft“ zu.
       Inzwischen aber nicht mehr für alle Intellektuellen, denen sie vorwirft,
       Recep Tayyip Erdoğan zu Beginn seiner Amtszeit mit „widerwärtiger
       Freiwilligkeit“ entgegengekommen zu sein. Diskutabel macht ihre These, dass
       die staatliche Repression in der Türkei und die Pogrome gegen
       Regierungsgegner und Andersdenkende dem „eisernen Band des Terrors“ zu
       ähneln beginnt, das für Arendt den Faschismus charakterisierte.
       
       ## Mit den Putschen 1960, 1971 und 1980 fing es an
       
       Temelkuran datiert den „Prozess der Auflösung von Demokratie und
       Menschlichkeit“ aber nicht erst ab 2002, dem Jahr, in dem die AKP zur Macht
       kam. Für Temelkuran realisiert sich schon mit den Militärputschen 1960,
       1971 und 1980 der gewalthaltige Wiederholungszwang einer „Republik, die auf
       Vergessen gründet“. Als Mustafa Kemal 1923 die Türkei „erfand“, wurde jede
       Erinnerung an die osmanische Geschichte getilgt. Diese historische Amnesie
       sei verantwortlich für die explosive Mischung aus Selbstüberschätzung und
       Minderwertigkeitskomplex.
       
       Die Liste der nationalen Albträume, die die Autorin aufblättert, ist
       unendlich. Vom Hutgesetz 1925 über die Kurdenmassaker in Dersim 1937/38 bis
       zur erneuten Kurdenjagd im Schatten des Krieges gegen den Islamischen Staat
       (IS). Den „großen Bruch im kollektiven Selbstbewusstsein der Türkei“ macht
       Temelkuran im Jahr 1971 aus. Damals wurden die drei linksrevolutionären
       Studenten Deniz Gezmiş, Yusuf Aslan und Hüseyin İnan hingerichtet, weil sie
       die Freiheitsrechte der Verfassung von 1960 „zu wörtlich genommen“ hatten.
       Deren Tod habe den Boden für den „inflationären Hass“ bereitet, der das
       geistige Klima in dem Land bis heute prägt.
       
       Die brutale Härte der AKP heute gegen ihre Gegner ist nur eine weitere
       Drehung in dem ewigen Circulus vitiosus der Gewalt am Bosporus. Nicht jede
       Metapher Temelkurans – wie die der Türkei als ein Waisenkind, das sich nach
       dem starken Vater sehnt – ist geglückt. Dennoch macht die historische und
       sozialpsychologische Tiefendimension ihr Buch so lesenswert.
       
       Die Journalistin geriet selbst in diesen Teufelskreis. „Internettrolle“ der
       Regierung drohten ihr im Netz mit Tod und mit Vergewaltigung nach einer
       regierungskritischen Artikelserie, 2011 verlor sie ihre Anstellung beim
       TV-Sender Habertürk. Ein Patentrezept gegen den „Wahnsinn namens Türkei“
       kann sie in ihrem wütenden, aber immer scharfsinnigen Buch nicht weisen.
       
       Sie setzt auf die zivilgesellschaftliche Kontrolle politischer Freiheiten
       wie durch die Wahlbeobachter von „Oy ve Ötesi“. Und empfiehlt: „Nett sein
       als revolutionären Akt“ gegen eine „Kultur extremer Gewalt“. Wenn es schon
       mit der berüchtigten „Brücke zwischen Orient und Okzident“ nicht geklappt
       hat. Vielleicht könnte das Land, in dem sie einen „hinkenden, konfusen,
       chaotischen Faschismus“ entstehen sieht, darin endlich einmal Vorbild sein:
       Wie man diese Herrschaftsform mit humanen Umgangsformen verhindert.
       
       14 Oct 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ingo Arend
       
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