# taz.de -- Ilan Volkov über zeitgenössische Musik: „Dem Lauf der Welt entkommen“
       
       > Der israelische Dirigent Ilan Volkov gastiert mit Stockhausens „Michaels
       > Reise um die Erde“ am Freitag und am Samstag im Haus der Berliner
       > Festspiele.
       
 (IMG) Bild: Lässt sich von Avantgarde-Rock inspirieren: Ilan Volkov
       
       taz: Ilan Volkov, Sie werden „Michaels Reise um die Erde“ von Karlheinz
       Stockhausen dirigieren, ein Teil seiner Oper „Licht“. Momentan reisen viele
       Menschen auf der Welt umher, weil sie auf der Flucht sind. Lässt sich das
       Stück dazu in Beziehung setzen? 
       
       Ilan Volkov: „Michaels Reise“ handelt von einer Person, die um die Welt
       reist. Als Utopie verweist es auf eine bessere Welt. Deswegen auch der
       Titel „Licht“, weil es grandiose und hoffnungsvolle Musik ist.
       
       Können Sie etwas zur Figur des Michael sagen, im Alten Testament ist er ja
       der Schutzengel Israels? 
       
       Stockhausen stellt sich den Engel in Gestalt der Trompete vor. Diese spielt
       eine lange , komplizierte Melodie. Diese Idee dreht Stockhausen weiter, so
       dass man glaubt, der Trompeter sei ein Sänger. Die Trompete als Sänger zu
       besetzen fasziniert mich.
       
       Warum? 
       
       Sie spielt eine Rolle und tut es, weil sie auf die sie umgebende Welt
       reagiert, so wie Mahler in seiner Musik auf die Welt reagierte. Das
       Orchester gerät in Bewegung, wenn die Erde sich dreht, wenn die Reise
       weitergeht, von einer der sieben Stationen zur nächsten.
       
       Können Sie die sieben Stationen der Reise näher beschreiben, etwa Köln,
       Bali, Afrika? 
       
       Stockhausen beginnt in Köln, wo er herkam. Bali war wichtig für die Musik
       von Debussy. Balinesische Musik wurde Ende des 19. Jahrhunderts oft in
       Paris aufgeführt. In Afrika zählten für Stockhausen Rhythmus und Energie,
       und er orientierte sich an Aufnahmen von Ethnomusikologen. Und dann
       entstehen diese Kontraste von Klängen, und Stockhausen instrumentierte jede
       Station unterschiedlich.
       
       Wie eine Klangreise … 
       
       Ja, er benutzte in jeder Szene andere Farben, er wollte dem Lauf der Welt
       entkommen, daher die Bezugnahme auf Engel.
       
       Sie sind in Ihrer Karriere als Dirigent oft unterwegs, um mit Orchestern zu
       arbeiten. Was bedeutet es Ihnen, zu reisen? 
       
       Es ist Teil meiner privilegierten Existenz. Es ermöglicht mir, dass ich mit
       unterschiedlichen Musikern in verschiedenen Kontexten arbeiten kann. Ich
       lerne unheimlich viel dazu, weil es keine Grenzen zwischen den Genres gibt,
       gleich ob ich im Kontext neuer Musik unterwegs bin oder Kollaborationen
       mache.
       
       Unterscheidet sich Dirigieren von Ihrer Kollaboration etwa mit Stephen
       O’Malley von der Dronemetalband Sunno)))? 
       
       Komposition ist nur ein Anfang für das, was Improvisation leisten soll.
       Meine Rolle als Dirigent sehe ich nicht in der Weitergabe von Details aus
       der Partitur. Ich habe mehr Entscheidungsfreiheit, was zurückweist ins 17.
       Jahrhundert, als weniger Anweisungen in den Partituren standen. Einige
       Kompositionen nutzen mich als eine Art Improvisator, der entscheidet, wo
       und wie das Klangmaterial des Orchesters in Bewegung kommt. Menschen
       zusammenzuführen, finde ich spannend: Also, ich habe etwa Stephen O’Malley
       eine neue Welt eröffnet, als ich ihn mit dem rumänischen Komponisten Iancu
       Dumitrescu in Verbindung gebracht habe. Orchester sind eigentlich für
       solche Begegnungen prädestiniert. Sie sollten durchlässiger sein, auch für
       spannende Musik, wie sie „Michaels Reise“ darstellt. Das Problem mit
       konzertanter Musik ist heute doch, dass es eine Arroganz des Kanons gibt,
       was wirklich problematisch ist, denn sie verhindert, dass wir nach neuen
       Ideen suchen. Wir führen nur noch Klassiker auf, die akzeptiert sind. Klar,
       der Unterhalt eines Orchesters ist kostspielig, und es geht darum, ein
       möglichst breites Publikum anzusprechen, aber eigentlich sollte das, was
       ich zuvor gesagt habe, kein Widerspruch dazu sein.
       
       Woher haben Sie das? 
       
       Das ist etwas, was ich von Avantgarde-Rock gelernt habe, von Musikern wie
       David Grubbs, durch Offenheit für Einflüsse von außen, entsteht neue
       Energie, die wichtiger als technische Raffinesse ist. Andererseits liebe
       ich es, Werke von Mahler zu dirigieren, und ich sehe dabei gar keinen
       Gegensatz mehr zur improvisierten Musik.
       
       „Michaels Reise“ war ursprünglich als Komposition von Recha Freier in
       Auftrag gegeben. Sie hat viele Kinder vor dem Holocaust gerettet. 
       
       Recha Freier ist eine legendäre Figur der israelischen Musiklandschaft,
       einflussreich zur Zeit des Holocaust, aber auch danach. Was man heute eine
       Kuratorin nennen würde, das hat sie schon vor 50 Jahren gemacht.
       
       Wie gefällt es Ihnen in Deutschland? 
       
       Deutschland bedeutet mir etwas, nicht nur, weil ich hier geboren bin, als
       Kind habe ich eine Weile mit meiner Mutter in Berlin gelebt. Für einen
       Israeli habe ich ungewöhnlich viel mit Deutschland zu tun. Ohnehin gehört
       das Land zu meiner DNA, es ist Teil meines Lebens. Nach Israel bin ich vor
       acht Jahren gezogen bin, als meine Tochter geboren ist. Es ist ein
       verrücktes Land, ein konfliktreicher Ort. Er macht ganz schön depressiv,
       ich bin erst 39, aber dieses Gefühl, dass es kein Entrinnen gibt, lässt
       mich schneller altern.
       
       Hilft Ihnen Musik dabei, die Depression zu lindern? 
       
       Das Problem ist, dass Kultur in Israel wenig Ansehen hat. Kein Wunder, wenn
       ständig Bomben explodieren, aber wenigstens stärkt das die Musik, denn man
       muss selbstständig arbeiten, und man kreiert etwas aus Nichts, speziell,
       was zeitgenössische Musik angeht, die taucht so gut wie gar nicht auf dem
       Radar auf. Nur weil wir eine dämliche Regierung haben, bedeutet das noch
       lange nicht, dass keine gute Kunst entsteht. Außerdem gibt es ein dankbares
       Publikum, dem ich sehr verbunden bin. In diesem Sinne bin ich doch
       optimistisch, dass sich etwas im ändert. Aber nicht auf politischer Ebene,
       sondern weil es die Menschen so wollen.
       
       18 Sep 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Julian Weber
       
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