# taz.de -- Die Wahrheit: Städter welcome
       
       > Wer im Urbanen beheimatet ist, der weiß nichts von den Diskursen auf dem
       > Land, dabei sollte er dort dringend mal vorbeischauen.
       
       Im Wartezimmer meines lieben Landarztes werde ich häufiger zur Zeugin
       ganzer Familienchroniken. Eine alte Frau fragt die andere: „Was macht denn
       Sabine?“, und schon erlange ich Kenntnis von einer Scheidung, einer
       Zwillingsgeburt, einigen Todesfällen, einem Autokauf, zwei Berufswechseln,
       drei Umzügen, dem Ableben des Schäferhundes, „und dann noch der Krebs!“ –
       „Was, sie hat Krebs?“ – „Nee, sie nicht, aber der Bruder, von dem Bruder
       die Frau, und da die andere Schwester, die damals den Laden hatte, die hat
       Krebs.“ – „Welchen Laden?“ – „In der Stadt an der Ecke, wo früher das
       Eiscafé war.“ – „Das Eis da war ja auch nichts.“ Na und so weiter.
       
       Ich glaube, mein Doktor ermuntert die Damen noch zu dieser
       Konversationsart, damit wir anderen wissen, wie gut es uns eigentlich geht,
       wenn wir sein Wartezimmer mit unseren Hypochondrien blockieren. Doch ich
       ahnte, dass etwas schiefläuft, als ich wieder mal hörte: „Sag mal, wie geht
       es eigentlich Heinz?“, und der angesprochene Opi recht selbstzufrieden
       antwortete: „Der ist doch schon seit drei Monaten tot.“ Da wusste ich,
       jetzt geht es ums Überleben.
       
       Wir Provinzler sterben aus, Heinz ist bloß der Anfang. Wer noch wegkann,
       flieht in die Städte. Aber wir anderen, früh Vergreisten, wir bleiben
       zurück und werden auf allen vieren in die Kreisstadt kriechen müssen, um
       Milch zu kaufen, wenn wir nicht mehr Auto fahren können. Jedes zweite Haus
       wird leer stehen. Und das alles bloß, weil der Herrgott die Freizügigkeit
       erfunden hat.
       
       Deshalb plädiere ich für die Zuweisung und verlässliche Umsiedlung von
       Berlinern, Hamburgern und Münchnern in meine Provinz. Erst in Landlust
       lesen, wie man den ganzen Tag Blumenkränze windet, dann „Altes Land“ auf
       die Bestseller-Liste hieven und schließlich jeden Piss-Laternenpfahl mit
       irgendeinem Guerillagarten umzingeln, doch final die Gülle nicht riechen
       wollen – geht ja gar nicht.
       
       Außerdem brauchen wir euch! Lernt authentische Autochthone kennen im
       Kirchenchor und in der Feuerwehr. Gruselt euch, weil es hier nachts dunkel
       wird, wenn um 23 Uhr die Straßenbeleuchtung ausgeht. Dann, oh Schreck, ist
       es auch noch still, bis das Käuzchen ruft oder die Marder ihre Kampfschreie
       ausstoßen. Kommt in mein Dorf, wo der Fußballtrainer neulich entschuldigend
       zu seinem ersten Spieler kurdischer Herkunft sagte: „Wenn die hier komisch
       sind, musst du dich nicht wundern, die haben noch nie einen Ausländer
       gesehen.“
       
       Daran stimmt fast nichts, denn ein Kurde der zweiten oder dritten
       Generation ist eigentlich ein Inländer, außer in meinem Dorf, wo aber
       inzwischen auch schon jeder mal einen Flüchtling getroffen hat. „Die
       unterhalten sich immer so laut im Laden, und dann schieben die ihre dicken
       Kinderwagen da durch“, beschwert sich eine der unangenehmeren alten
       Schachteln. Selbst ist sie übrigens nicht von hier. Doch ihre Flucht liegt
       schon 70 Jahre zurück – da darf schließlich auch mal Gras über die Sache
       wachsen.
       
       15 Sep 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Susanne Fischer
       
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