# taz.de -- Anschläge in Suruç und Kobani: Die Geister, die Erdoğan rief
       
       > Bei Anschlägen an der türkisch-syrischen Grenze sterben Dutzende
       > Menschen. Nun rächt sich, dass die Türkei den IS lange gewähren ließ.
       
 (IMG) Bild: Das Kulturzentrum in Suruç kurz nach dem Anschlag.
       
       ISTANBUL taz | Es waren zwei Handyfotos, die das Grauen des Attentats im
       Kulturzentrum von Suruç besonders deutlich machten. Auf dem ersten sind
       rund 50 junge Männer und Frauen zu sehen, die lachend und gestikulierend um
       mehrere Tische im Garten des Armara-Kulturzentrums sitzen.
       
       Das zweite Foto ist nur wenige Sekunden später entstanden. Wo vorher die
       lachenden Menschen standen, sind jetzt nur noch rauchende Trümmer und
       verstreute Leichenteile zu sehen. Mindestens 28 junge Menschen wurden auf
       einen Schlag getötet, mehr als 100 teils schwer verletzt. Der Zeitpunkt des
       mörderischen Attentats war perfide gewählt.
       
       Über 350 Jugendliche hielten sich im Kulturzentrum in Suruç auf. Sie waren
       aus allen Teilen der Türkei in dem Städtchen an der syrischen Grenze
       zusammengekommen, um ihre Sommerferien dazu zu nutzen, beim Wiederaufbau
       der syrisch-kurdischen Stadt Kobani, die direkt gegenüber von Suruç auf der
       anderen Seite der Grenze liegt, mit anzupacken. Sie wollten eine Bibliothek
       aufbauen, hatten sie gerade erzählt, als vermutlich ein
       Selbstmordattentäter mitten unter ihnen seinen Sprengstoffgürtel zündete.
       
       Die Jugendlichen, die sich in Suruç versammelt hatten, gehören zum Bund der
       Vereine junger Sozialisten, der Jugendorganisation der Partei Ezilenlerin
       Sozyalist Partisi (ESP). Es sind kurdische und türkische Jugendliche, die
       überwiegend aus Istanbul, Izmir und Ankara nach Suruç gekommen waren, um
       selbst einen Beitrag zum Wiederaufbau von Kobani zu leisten, der Stadt, die
       im letzten Jahr zum Symbol des Widerstandes der Kurden gegen die
       Terrortruppen des IS geworden war.
       
       Das Kulturzentrum liegt direkt an der Hauptstraße von Suruç. Das große
       Gelände diente im letzten Jahr noch Flüchtlingen als Notunterkunft, die im
       Garten zelteten und sich in der Kantine des Zentrums versorgen konnten. Wer
       während der Kämpfe im letzten Jahr Informationen und Kontakte zu den
       Kämpfern in Kobani suchte, ging als Erstes ins Kulturzentrum in Suruç.
       
       ## Schläferterroristen des IS?
       
       Obwohl es bis Montagnachmittag noch niemanden gab, der für das Attentat die
       Verantwortung übernehmen wollte, gehen die türkischen Behörden davon aus,
       dass es sich um einen Selbstmordattentäter handelte, der sich im Auftrag
       des IS im Kulturzentrum in die Luft sprengte. Auch Augenzeugen erzählten
       dem Sender CNN-Türk, sie hätten Sekunden vor der Detonation einen Mann
       gesehen, der der Attentäter gewesen sein könnte.
       
       Die gesamten Umstände sprechen jedenfalls für eine Urheberschaft des IS.
       Erst vor drei Wochen waren IS-Kommandos getarnt mit kurdischen Uniformen in
       Kobani eingedrungen und hatten dort etliche Zivilisten ermordet, die nach
       dem Sieg der kurdischen YPG zu Beginn des Jahres nach Kobani zurückgekehrt
       waren. Auch am Montag wurden parallel zu dem Anschlag in Suruç zwei Bomben
       in Kobani selbst gezündet, allerdings ohne großen Schaden anzurichten.
       
       Der kurdische Sieg über den IS in Kobani im Februar dieses Jahres und die
       Eroberung des östlich von Kobani gelegenen Grenzortes Akçakale haben den IS
       in diesem Teil Syriens in die Defensive getrieben. Es liegt deshalb nahe zu
       vermuten, dass der IS als Reaktion darauf jetzt seine Schläfer in der
       Türkei aktiviert, um durch Terroranschläge Angst und Schrecken zu
       verbreiten. Jetzt rächt sich, dass die türkische Regierung über Jahre den
       IS in der Türkei heimlich gewähren ließ, in der Hoffnung, mithilfe der
       Islamisten das Regime Assad wie auch die Kurden in Syrien bekämpfen zu
       können.
       
       Plötzlich geben sich Regierung und Staatspräsident Tayyip Erdoğan entsetzt.
       Drei Minister eilten an den Ort des Anschlages, Erdoğan, der am Montag zu
       Besuch in Zypern weilte, verurteilte den Anschlag aufs Schärfste und in
       Ankara wurde ein Krisenstab eingerichtet. Oppositionsführer Kemal
       Kılıçdaroǧlu, der die Syrienpolitik Erdoğans seit Langem scharf kritisiert,
       sah mit dem Anschlag seine Befürchtungen bestätigt, dass die Regierung die
       Türkei auf direktem Weg in den syrischen Bürgerkrieg hineinsteuert.
       
       ## Nur der Auftakt?
       
       Umgehend wurden am Montag Befürchtungen laut, dass Suruç nur der Auftakt
       für eine Terrorwelle sein könnte, mit der der IS nun die Türkei überziehen
       wird. Hunderte junger Türken kämpfen in Syrien und in Irak in den Reihen
       des IS. In Istanbul, in Ankara aber vor allem in den grenznahen Großstädten
       wie Urfa und Gazıantep dürften sich Tausende IS-Mitglieder oder
       Sympathisanten aufhalten, die auf Anweisung ihrer Führer sofort zuschlagen
       könnten. Erdoğan droht zum Zauberlehrling zu werden, der die einstigen
       Verbündeten jetzt nicht mehr unter Kontrolle bekommt.
       
       Völlig entsetzt waren am Montag die Sprecher der links-kurdischen HDP,
       deren Anhänger Opfer des Anschlags geworden waren. Völlig aufgelöst
       berichtete die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der HDP, Perivan
       Buldan, dass sie erst kürzlich mit Vertretern der Jungsozialisten
       zusammengekommen war, um mit ihnen zu beraten, wie sie der Bevölkerung von
       Kobani am besten beistehen könnten. Bäume pflanzen, hatte sie
       vorgeschlagen.
       
       Erbittert stellte der HDP-Chef Selahattin Demirtașfest, die Kurden müssten
       nun selbst für ihre Sicherheit sorgen. Montagabend sollte eine von der HDP
       initiierte Trauerdemonstration in Istanbul stattfinden.
       
       20 Jul 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jürgen Gottschlich
       
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