# taz.de -- NS-Verbrechen in Griechenland: Kärtchen gegen das Vergessen
       
       > Die Deutschen haben in der Zeit der Besatzung im Zweiten Weltkrieg
       > Massaker auf Kreta verübt. Ein Künstler versucht, daran zu erinnern.
       
 (IMG) Bild: Tafel am Eingang des kretischen Dorfes Kandanos, das im Juni 1941 von der Wehrmacht zerstört wurde.
       
       Chania taz | Konstantin Fischer betritt das kleine Café in der Altstadt.
       Während in Brüssel das Ringen mit den Gläubigern um eine Lösung für die
       Schuldenkrise weitergeht, diskutieren an den kleinen runden Tischen junge
       Leute über die Folgen eines Grexits. Fischer grüßt, fragt, ob er Postkarten
       auslegen darf. Vassilis nickt, wie andere Lokalbesitzer in der Stadt
       unterstützt er das Projekt des Künstlers, der jetzt am Tresen einen kleinen
       Stapel ablegt.
       
       Fischer ist keiner, der sich aufdrängt. „Die Menschen sollen selbst
       entscheiden, was sie damit machen.“ Er hat zehn unterschiedliche Postkarten
       entworfen, die auf Englisch, Deutsch und Griechisch kurze Geschichten
       erzählen – oder, wie er es verstanden wissen will: Fragen aufwerfen. „Ich
       wünschte, ich wüsste mehr“ heißt sein Projekt. Es handelt von der Zeit der
       Kriegsverbrechen, die deutsche Soldaten während der Besatzung im Westen der
       Insel Kreta verübt haben. Mehr als 10.000 Karten will Fischer in
       Griechenland und Deutschland verteilen.
       
       Fischer, Jahrgang 1967, groß, schlank, eckige Brille, ist gebürtiger
       Hamburger. „Ich wünschte, ich wüsste mehr“ soll ein Gegengewicht sein zu:
       „Davon habe ich nichts gewusst“ sein. Jene Haltung, die so typisch für die
       Generation seiner Eltern und Großeltern war. Griechen wie Deutsche haben
       versucht, die Vergangenheit zu vergessen, die Finanzkrise und die noch
       offene Frage nach Reparationszahlungen haben sie wieder ins Bewusstsein
       gerückt.
       
       Fischers Griechisch ist fast akzentfrei, seit 1992 lebt er auf Kreta. Seine
       Kunstwerke sind meist Installationen und Projekte mit sozialen Bezügen in
       der Tradition von Joseph Beuys. „Mir geht es hauptsächlich um die
       künstlerische Dimension – dass in unserem Leben von der Vergangenheit etwas
       zurückgeblieben ist, das uns beeinflusst, ohne dass wir es bemerken“, sagt
       er.
       
       Was das genau bei einem Menschen sei, dieses Residuum, was es mit ihm
       macht, sei individuell verschieden, meint Fischer. Jeder könne in seinem
       Umfeld suchen, was für ihn aus dem Zweiten Weltkrieg relevant sei. „Dafür
       gibt es die zehnte Karte, die weitgehend leer ist: Hier kann jeder seine
       eigene Geschichte einflechten.“
       
       ## Deutsches Schweigen
       
       Auch in Fischers Familie hat nie jemand über die Nazi-Vergangenheit
       gesprochen – es ist einer der Gründe, warum er sich als junger Mann
       entschied, Deutschland zu verlassen. „Diese Scham, diese Ungerechtigkeit,
       das geht nicht von allein weg“, sagt er. Vielleicht wären „die Gefühle auf
       beiden Seiten“, vielleicht wäre gar Europa anders, wenn man früher drüber
       gesprochen hätte, sagt er und setzt seinen Rucksack auf.
       
       Christos, Lehrer in Chania, hat beobachtet, wie Fischer die Postkarten
       auslegt. Beim Wirt Vassilis erkundigt er sich, worum es geht. Nach dessen
       Erläuterung nimmt der bärtige junge Mann eine Karte in die Hand und
       betrachtet sie vorsichtig. Auch für ihn seien die Erinnerungen aus dem
       Zweiten Weltkrieg noch sehr lebendig, sagt er leise. Verwandte von ihm
       haben das KZ Mauthausen überlebt, das größte Konzentrationslager der
       Nationalsozialisten auf österreichischem Gebiet. Ihre Berichte haben ihn
       als Kind sehr beeindruckt.
       
       Christos gefällt Fischers Projekt und ihn bekümmert der Zulauf für die
       Neonazi-Partei „Goldene Morgenröte“ in Griechenland. Wie viele hier
       fürchtet er, dass ein Scheitern der linksgerichteten Tsipras-Regierung und
       eine Fortsetzung der harten Sparpolitik die Faschisten stärken könnte. „Man
       muss zurückblicken, damit man weiß, was getan werden muss, damit sich die
       Geschichte nicht wiederholt“, sagt Christos. Ihm gehe es nicht um die
       Reparationen, sagt er, „sondern die Lehren aus diesem Krieg.“
       
       Fünfzig Kilometer südwestlich von Chania liegt das kleine Dorf Kandanos.
       Unter Befehl von Generaloberst Kurt Student hatte die deutsche Wehrmacht am
       3. Juni 1941 das ganze Dorf niedergebrannt und ausgelöscht. Es war eine
       Vergeltungsmaßnahme, nachdem kretische Widerstandskämpfer 25
       Wehrmachtssoldaten in der Schlucht von Kandanos in einen Hinterhalt gelockt
       und umgebracht hatten.
       
       Jetzt, an einem Frühsommertag des Jahres 2015, stehen Dorfbewohner und
       Besucher auf dem kleinen Dorfplatz, sie warten auf die ersten Teilnehmer
       eines Gedenklaufs, aus Lautsprechern scheppert kretische Musik. Junge
       Menschen in bunter Sportkleidung und Touristen laufen neugierig auf dem
       Platz herum, die älteren Dorfbewohner trinken in aller Ruhe Kaffee. Einige
       Helfer der Gemeinde bereiten die Preise für die besten Läufer vor. Menschen
       jeden Altes nehmen am Gedenklauf teil. Es herrscht Festtagsstimmung. Auch
       der Versöhnungskünstler Fischer ist hier, er will seine Postkarten unter
       die Menschen bringen.
       
       ## Dornen und Felder
       
       Das Haus von Ioanna Kandaraki liegt nur ein paar Meter vom Dorfplatz
       entfernt. Sie ist eine der wenigen Zeitzeugen des Massakers von Kandanos,
       die heute noch am Leben sind. Den Künstler begrüßt die schwarz gekleidete
       alte Dame herzlich.
       
       Im Jahr 1941 war sie zehn Jahre alt, sie und ihre Familie hatten sich in
       einer Scheune versteckt. Ioanna Kandaraki spürt heute noch, wie die Dornen
       in ihren Körper stachen, als sie durch die Felder rannten, sagt sie und
       zeigt auf Händen und Beine, ihre Augen werden feucht. „Dieser Tag war so
       dunkel, so traurig. Überall gab es Feuer und Rauch. Es herrschte Stille.
       Man hörte nur die Stiefel der Soldaten und die Gewehre“, berichtet sie.
       
       Ihre Tochter und Enkelkinder sitzen schweigend neben ihr. „Der Schmerz
       sitzt tief“, sagt Kandaraki, „in der ganzen Familie. Meinem Enkelsohn wurde
       der Vorschlag gemacht, in Deutschland zu studieren, aber er hat sich für
       Schweden entschieden. Er will nicht nach Deutschland gehen, nach all dem,
       was die Deutschen Griechenland angetan haben.“
       
       In den Sommermonaten verlaufen sich hin und wieder deutsche Touristen in
       den Garten von Ioanna Kandaraki. „Einmal waren die Granatäpfel auf dem Baum
       fast aufgeplatzt, und die Touristen schauten begeistert. Ich habe ihnen ein
       paar geschenkt. Ich habe nichts gegen sie. Die Kinder der Soldaten trifft
       keine Schuld. Die Schuld tragen diejenigen, die damals erwachsen waren“,
       sagt die alte Dame bitter.
       
       Fischer zeigt ihr seine Karten. Auf einer ist die Geschichte von Maria
       Despotaki aus dem nahen Dorf Kakopetros aufgeschrieben. Kandaraki hat sie
       gekannt. Die vier Söhne der Frau wurden in Vergeltung für
       Widerstandsaktivitäten, mit denen sie gar nichts zu tun hatten, erschossen.
       Die Mutter musste den Soldaten gestohlene Hühner zubereiten, während ihre
       Kinder tot am Straßenrand lagen. So steht es auf Fischers Karte. Ihre
       Familie sei gerührt, sagt Eleni, die 59-jährige Tochter Kandaraki.
       
       Sie kann die festliche Stimmung auf dem Dorfplatz nicht teilen. „Die jungen
       Menschen feiern, aber sie wissen nicht, warum sie es tun. Der 3. Juni ist
       kein Fest, sondern ein Gedenktag, ein Tag der Trauer“, sagt sie. Ihre
       eigene Tochter, sie heißt Katerina, 34, ist auch da. Sie glaubt, dass die
       Nachkriegsgeneration sich intensiver mit der Vergangenheit
       auseinandersetzen sollte. „Wir sollten selbst in Archiven und nach Quellen
       suchen, um der Realität näher zu kommen. Aber offen, ohne Hass.“
       
       ## Hans, Jahrgang 1933
       
       Ihre Großmutter Ioanna wünscht sich mehr Rücksicht aus Deutschland. Sie
       findet, dass eine Rückgabe des Besatzungskredits und die Zahlung der
       Reparationen den Deutschen gut anstünden und den von der Krise stark
       angeschlagenen Griechenland guttun würden. „Man übt enormen Druck auf uns
       aus“, sagt sie. Griechenland versuche ja, das Geld für die Gläubiger
       zusammenzukriegen und seine Schulden zurückzuzahlen. „Aber wir schaffen es
       nicht, wir müssen schließlich überleben!“
       
       Ein paar Meter entfernt vom Haus der Kandarakis erklimmt ein älteres
       Touristenpaar aus Deutschland einen kleinen Steilhang. Sie wollen die
       Ausstellung zur deutschen Besatzungszeit und dem Widerstand der lokalen
       Bevölkerung besuchen, die im Kulturzentrum des Dorfs stattfindet. Der
       Deutsche stellt sich als Hans vor, Jahrgang 1933, er hat den Krieg als
       kleines Kind erlebt. Fast jedes Jahr kommt das Rentnerpaar aus Deutschland
       nach Kreta.
       
       Auch den deutschen Soldatenfriedhof in Maleme in der Nähe von Chania haben
       sie öfters besucht. „Es ist nicht nur die Geschichte Griechenlands, sondern
       auch die von Deutschland“, sagt der Mann. Auch seine Heimatstadt wurde
       bombardiert. „Wenn man darüber nachdenkt: Es war schon sehr schlimm,
       überall.“
       
       „Typisch“, sagt Fischer dazu. Diese Relativierung der Kriegsverbrechen
       macht ihn wütend. Eftichis Korkidakis hat 35 Jahre lang Alltagsgegenstände
       aus jener Zeit gesammelt und sie für diese Ausstellung zur Verfügung
       gestellt. Dorfbewohner haben sie ihm gegeben, anderes fand er im Müll.
       
       Erst jetzt bekam er die Gelegenheit, seine Sammlung einem Publikum zu
       zeigen, obwohl schon lange im Dorf ein Museum geplant ist. Dazu hat der
       heute 66-jährige Mann noch Hunderte von Fotos gesammelt, die derzeit in
       einem Lager verstauben. „Leider will Deutschland alle diese Erinnerungen
       einfach streichen“, sagt Korkidakis. Das erste und letzte Mal, dass die
       Deutschen im Dorf etwas getan hätten, das Wiedergutmachung ähnelt, sei 1963
       gewesen. Damals errichteten Deutsche und Kreter gemeinsam das Wasserwerk.
       
       „Als Zeichen des Willens zu Freundschaft“, steht auf der Gedenkplatte, die
       diese Aktion am Dorfeingang dokumentiert. Es scheint zeitlich weit
       entfernt. Ob Deutschland und Griechenland mal wieder eine Chance bekommen,
       die Wunden der Vergangenheit und der Gegenwart zu schließen? Konstantin
       Fischer fotografiert den Stein. Er streift weiter durch Kandanos, durch
       dessen Umgebung, um Gedenksteine, die historischen Orte festzuhalten, die
       an die Verbrechen der Deutschen erinnern. „Solange es noch Menschen gibt,
       die diese Dinge erlebt haben und sie in ihren Albträumen Nacht für Nacht
       aufs Neue durchleben, sind sie auf keinen Fall vergessen“, sagt er.
       „Anders, als viele in Deutschland denken.“
       
       30 Jun 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Chrissi Wilkens
       
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