# taz.de -- Kunst und Krise in Griechenland: Nächster Akt
       
       > Ein Theaterprojekt in Athen stemmt sich gegen die Krise. „Es geht darum,
       > seine Stimme zu erheben“, sagt die Organisatorin.
       
 (IMG) Bild: Probenraum in der alten Ölmühle in Elefsina: Hier hält die „Schule für antikes Drama“ ihre Sommer-Workshops ab - auch 2015 wieder
       
       ATHEN taz | Durch die morschen Fensterrahmen der Ölmühle fällt Sonnenlicht,
       zeichnet blendend weiße Rauten auf den Betonboden des halb verfallenen
       Gebäudes. Jeder Schritt hallt. Zwanzig Theaterschülerinnen und
       Theaterschüler stehen in Paaren zusammen, fixieren sich stumm. An den
       Wangen rinnt Schweiß herab, nässt Tank Tops und glänzt auf nackten
       Oberarmen.
       
       Auf ein Kommando des Trainers stemmen sich die Körper gegeneinander, einer
       der Partner legt die Hände an den Kopf des Gegenübers, presst gegen Stirn,
       Kiefer, Schultern. Die Probanden winden sich unter dem Druck, weichen ihm
       aus, halten dagegen.
       
       Im Halbschatten am Rand der Halle sitzt Marina Mantzouki, eine zierliche
       Frau mit glattem, alterslosem Gesicht. Sie beobachtet die Studenten, die
       sich mit angespannten Gesichtern über den Betonboden schieben. „Die Technik
       heißt Fighting Monkey, eine Mischung aus Bewegung und Kampfkunst“, sagt
       sie, die Stimme zum Flüstern gesenkt. „Es geht darum, ursprüngliche
       Bewegungen wiederzufinden, Vertrauen in den eigenen Körper.“
       
       Marina widmet sich wieder dem kleinen, schwarzen Laptop auf ihren Knien.
       Eigentlich wollte sie den Workshop auch belegen, aber dann hat sie der
       Alltag eingeholt: ein Auftrag, der erste seit Langem. Sie soll einige
       Folgen einer spanischen TV-Soap ins Griechische übersetzen. Die Bezahlung
       steht noch nicht fest, aber es soll schnell gehen. Also legt sie los und
       flucht, wenn ihr ein Wort fehlt.
       
       Eigentlich ist sie hier, um genau diesen Alltag für eine Zeit vergessen zu
       machen – „die Krise, ja, die Krise“, hatte sie gesagt und gelacht. Es ist
       der Spätsommer vor der griechischen Parlamentswahl, Alexis Tsipras ist noch
       der Herausforderer, Hoffnungsträger für die einen und unmöglich für die
       anderen. Und irgendwie auch ganz egal, wie Marina sagt – wie viele Griechen
       glaubt sie nicht, dass sich durch einen politischen Wechsel viel an ihrer
       Situation ändern würde. Beim Theater gehe es ihr um etwas anderes:
       Zumindest für zehn Tage im Jahr sollen Schauspieler in Griechenland wieder
       Schauspieler sein, Tänzer wieder Tänzer, Menschen wieder Menschen – und
       nicht Arbeitslose, mittellose Selbstständige oder Rentner ohne Rente.
       
       ## Theaterleute mit internationalem Ruf
       
       In diesen zehn Tagen erweckt die Theatergruppe „Baumstraße“ die alte
       Ölmühle im Athener Vorort Elefsina zum Leben. Etwa 50 Theaterschüler proben
       Stücke und führen sie auf. Die „Schule für antikes Drama“ hat
       internationales Renommee, vor allem wegen der Performer und Tänzer aus ganz
       Europa, die Workshops geben und Vorträge halten.
       
       Marina ist Organisatorin, Ansprechpartnerin, Büro der „Baumstraße“; ihr
       Bruder Vassilis Mantzoukis und ihre Schwägerin Martha Frintzilla haben die
       Theatergruppe gegründet und ihr den deutschen Namen gegeben, der auf ein
       Gemälde von Paul Klee zurückgeht. Vassilis ist Komponist und regelmäßig bei
       den großen griechischen Theaterfestivals vertreten, Martha ist
       Schauspielerin am Nationaltheater und gibt Seminare. Kulturelle Elite, wenn
       man so will, zumindest gehören sie zu den Auserwählten in Griechenland, die
       noch von ihrer künstlerischen Profession leben können.
       
       Ein Luxus ist das nicht: In Elefsina schlafen sie im Matratzenlager auf dem
       Fußboden des alten Verwaltungstraktes oder auf Isomatten. Öffentliche
       Förderung erhalten sie nicht, die Kommune stellt kostenfrei das Gelände zur
       Verfügung – das war’s. „Wir haben schon überlegt, ob wir im nächsten Jahr
       Bauarbeiterhelme austeilen sollen“, sagt Marina, nur halb im Scherz – Teile
       der alten Ölmühle sind einsturzgefährdet.
       
       Sie klappt den Laptop zu und schlendert nach draußen. Ihre Sandalen
       knirschen auf dem Schotter des weiten Vorplatzes. Eine Bruchsteinmauer
       fasst das Gelände ein, von der Straße ragen Pinienwipfel in den Hof.
       Elefsina war seit der Antike ein kulturelles Zentrum, wie Marina erklärt.
       Der große Tragödiendichter Aischylos ist hier geboren.
       
       Heute ist Elefsina ein Vorort, gelegen am kleinen Nebenarm einer
       Hauptverkehrsader, die sich an der Stadt vorbeizieht. Rechter Hand flache
       Lagerhallen mit gesprungenen Scheiben, links die Promenade.
       Kinderspielplatz, ein paar Meter Sandstrand. Frachtschiffe kreuzen die
       Bucht, eine verirrte Jacht zwischen den Hügeln am Horizont, wohl auf dem
       Weg zum Hafen von Piräus. In der Ferne steigt Rauch auf, aus dem Schlot
       einer Raffinerie schießen Feuerstöße. Natürlich gebe es noch Industrie in
       Griechenland, Wohlstand, Reichtum sogar, sagt Marina. „Nur sind die meisten
       Menschen von dieser Sphäre ausgeschlossen.“
       
       ## „Wir stecken alle in einem Haufen Scheiße“
       
       Das Seminar ist beendet, die Theaterschüler haben sich vor dem
       Küchenbungalow niedergelassen. Paul, ein schlaksiger Student aus New
       Jersey, liegt in der Sonne, Joko sitzt auf einem Plastikstuhl und unterhält
       sich mit zwei Freundinnen aus Athen. Er ist 24, studiert Kunst und Theater;
       schlank, braun gebrannt, mit schwarzer Latzhose über dem T-Shirt. Am Träger
       der Hose krallt sich eine kleine Schwalbe fest. „Das ist Homer“, sagt er
       und grinst. „Wir haben ihn beim Aufbau gefunden und aufgepäppelt.“ Joko war
       im Vorjahr Schüler, dieses Mal ist er als Helfer dabei. „Das hier ist
       Arbeit“, sagt er. „Waschen, spülen, aufräumen. Arbeit an Stücken, an
       Texten. Und Arbeit an mir selbst.“
       
       In Athen teilt sich Joko ein kleines WG-Zimmer mit einem anderen Studenten.
       „Wir sind alle in der gleichen Situation“, sagt er, räuspert sich und setzt
       den kleinen Vogel auf dem Tischchen ab. „Wir stecken in einem Haufen
       Scheiße. Du findest keine Arbeit, hast nicht das Geld, um die Miete zu
       zahlen, den Strom. Es reicht vorne und hinten nicht. Du musst Wege finden,
       das mal kurz zur Seite zu schieben. Dein Leben erträglich zu machen.“ Das
       hat ihn zur Baumstraße und schließlich zur Theaterschule nach Elefsina
       geführt.
       
       In der Küche der alten Ölmühle wird das Mittagessen aufgewärmt, in
       Backformen dampft Pasticio – Nudelauflauf –, es duftet nach Minze. Marinas
       Mutter betreibt ein kleines Catering-Unternehmen, sie bringt jeden Tag das
       Essen vorbei. Die Studenten nennen sie „Frau Happy“, weil sie so viel
       lacht. „Das Ganze hier funktioniert nur als Familienunternehmen“, sagt
       Marina.
       
       ## Sie zahlen noch drauf
       
       Plötzlich wird es laut auf dem Vorplatz: Martha ist angekommen. Umarmungen,
       Küsse auf die Wange. Ein tiefes, fast frivoles Lachen, dann steht Martha
       Frintzilla in der Küchentür, hochgewachsen, im weiten Kleid, die lockigen
       Haare zu einem Zopf gebunden. Sie ist 42 Jahre alt, klassisch-schönes
       Gesicht mit großen Augen und hohen Wangen; eine Figur, die eher
       Lebensfreude als Askese ausstrahlt. Im Nationaltheater spielt sie die
       Aphrodite, seit 2011 bespielt sie außerdem mit ihrem Lebenspartner den
       Probe- und Aufführungsraum der „Baumstraße“ in Athen und organisiert die
       Sommerschule in Elefsina.
       
       „Ein gutes Geschäft ist das nicht“, sagt Martha und lacht ihr tiefes
       Lachen. Sie hat sich in einen der Plastikstühle sinken lassen, Zigarette in
       der Hand. Bei viele Aktionen müssen sie selbst etwas zuschießen, manchmal
       findet sich eine Stiftung oder ein Mäzen. Die Kurse kosten zwischen 20 und
       50 Euro. Wer nicht bezahlen kann, hilft stattdessen – putzt, baut Bühnen
       auf oder fasst in der Küche mit an. „Ohne die Gemeinschaft würde es nicht
       gehen“, sagt Martha.
       
       Im ersten Jahr seien sie 50 Leute gewesen, Studenten, Lehrer, Helfer. Im
       nächsten 100. Jetzt seien sie schon 500, im losen Verbund. „Die Menschen
       suchen nach Nähe. Um zu sehen: Ich bin nicht allein in diesem Albtraum.“
       Mindestens drei Viertel der Studenten seien arbeitslos. In Athen gibt es
       wieder regelrechte Armenspeisungen, zu denen Tausende für eine warme
       Mahlzeit pilgern. Auch in Elefsina, Marthas Geburtsort, geben sie wieder
       Essen aus, zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg, wie sie sagt.
       
       ## Machen was einem gefällt
       
       Aber wie kann das Theater ein Ausweg sein aus dieser Misere? Diesmal kein
       Lachen, sondern kurze Stille, ein Zug an der Zigarette. „Im antiken
       griechischen Drama geht es um Menschen und um die Macht über Menschen“,
       sagt Martha. „Es geht darum, seine Stimme zu erheben.“ Sie sehe doch die
       Müdigkeit vieler Menschen. „Theater kann ihnen helfen, ihre Stimme
       wiederzufinden. Oder zumindest ein Licht sein in dieser Dunkelheit.“
       
       Auch Martha glaubt nicht an einen schnellen Wiederaufstieg, den oft
       beschworenen Ausweg aus der Krise. „Wir müssen uns andere Wege suchen“,
       sagt sie. Zusammenhalt sei das eine, Gemeinschaft, getragen von fast
       familiären Beziehungen, von Tauschgeschäften und offenen Räumen. Von
       Freiwilligen, die ihre Kraft und Zeit in ein gemeinsames Projekt
       investieren. „Wenn du mit keinem Beruf Geld verdienen kannst, weil du
       keinen Job findest, dann kannst du zumindest machen, was dir gefällt“, sagt
       Martha mit der Ratio der Stunde null.
       
       Ist dieser Neustart durch die Krise vielleicht auch eine Chance für die
       griechische Gesellschaft, für die Kunst? Da winkt sie ab und lacht. „Ich
       glaube, wenn sich die Wirtschaft etwas erholt hat, dann werden sich die
       meisten hier wieder schlecht bezahlte Jobs suchen und der Kunst den Rücken
       kehren.“
       
       ## Einige unbeschwerte Abende
       
       Am letzten Abend der Theatertage glänzt das Meer in der Abendsonne. Es ist
       ruhig, kein Frachter in Sicht. Am Wasser entlang schlängelt sich eine
       kleine Menschenschar in Richtung der alten Ölmühle, der Stuhlreihen und
       Bühnen, die die Theatergruppe dort aufgestellt hat. Es ist ihr Geschenk an
       Elefsina: einige unbeschwerte Abende.
       
       Als alle längst sitzen, verlässt auch Marina das kleine Verwaltungsgebäude,
       in dem sie an ihrer Übersetzung gearbeitet hat. Sie stellt sich in die
       letzte Reihe, zieht an einer selbst gedrehten Zigarette. Ihr Freund ist
       gekommen, um später beim Abbau zu helfen. Sie lehnt sich bei ihm an, lacht.
       Auf der Bühne jammert ein spindeldürrer Schauspieler im Kostüm der
       Aphrodite über die Schuldenlast der Griechen. Schallendes Gelächter,
       minutenlanges Lachen und Johlen.
       
       Ein halbes Jahr später hat Griechenland eine neue Regierung. Der Streit
       über Schulden und Hilfsgelder mit der Troika, die jetzt Brüsseler Gruppe
       heißt, ist wieder in vollem Gang. Joko wohnt noch immer in seiner
       Studentenbude. Marina wartet weiter auf Aufträge – und plant die
       Theaterkurse für dieses Jahr. Wieder zehn Tage Elefsina. Noch hat hier
       keiner der Kunst den Rücken gekehrt.
       
       4 Jun 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Urs Spindler
 (DIR) Arne Schulz
       
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