# taz.de -- Installation: Bravo, Schlingensivo
       
       > In der Ausstellung "18 Bilder pro Sekunde" im Münchner Haus der Kunst
       > überrascht Christoph Schlingensief mit sensibel inszenierter privater
       > Trauer.
       
 (IMG) Bild: Ungeahnte Sensibilität: Schlingensief mit der Kamera
       
       Ein Enfant terrible weint nicht, wenn es leidet. Zusammen mit dem
       Superhelden, dem Idol und dem Protestler begründet es eine eigene Gattung,
       der in der öffentlichen Wahrnehmung lediglich Brüllen, Toben und Schreien
       zur Äußerung von Verzweiflung zugestanden werden.
       
       Ausgerechnet Christoph Schlingensief tritt nun aus der Reihe der
       tränenlosen Wüter heraus. Herzenswärme wird dem Theaterprovokateur längst
       nachgesagt, Empathie dagegen erregte er selten. Das dürfte sich demnächst
       gründlich ändern. In einer großartigen Ausstellung im Münchner Haus der
       Kunst überrascht der 47-Jährige ausgerechnet mit unprätentiös inszenierter,
       höchst privater Trauer. Gewidmet ist die Ausstellung "18 Bilder pro
       Sekunde" Schlingensiefs Vater. Im Februar, während der Sohn zum Zwecke
       einer Inszenierung von Wagners "Fliegendem Holländer" im Urwald von Manaus
       weilte, starb der nach einem Schwächeanfall. Dies verarbeitet Schlingensief
       in München mit überraschender Eindringlichkeit und ungeahntem Zartgefühl.
       
       Hinter einem zusammengenagelten Bretterzaun, der Schlingensiefs Kunst gegen
       den Ausstellungsraum, gegen die nationalsozialistische Machtarchitektur des
       Museums abgrenzt, dominiert ein meterhoher, quittengelber Jesus in
       knuffiger Disney-Ästhetik, umringt von acht Aposteln. Sie stammen alle aus
       Manaus und alle sind sie einem peruanischen Karnevalswagen nachempfunden.
       Vielleicht sitzt auch deshalb ein styroporener Mohammed zur Rechten des
       Gottessohnes? Zwar würde er mit Spitzbart, Mandelaugen und Trompetenärmeln
       problemlos als mongolischer Krieger oder geheimnisvoller Mandarin
       durchgehen. Doch er soll natürlich das friedliche Miteinander der
       Weltreligionen symbolisieren, Abbildungsverbot hin, Karikaturenstreit her.
       
       Unter den fröhlich-farbigen Aposteln sind in achtzehn Kabinen äußerst
       bemerkenswerte Filmsequenzen zu sehen, teils aus der Opernproduktion in
       Manaus, teils Schlingensiefs neustem Projekt "African Twin Towers" in
       Namibia entnommen. Neben den wohlgeformten Schenkeln einiger
       Samba-Tänzerinnen zeigen sie das ganze Können eines Künstlers, der nach
       Jahren der Theaterarbeit wieder zum Film zurückgekehrt ist. Bereits in den
       Siebzigern, noch bevor der in Oberhausen geborene Schlingensief nach
       München kam, um Kunstgeschichte, Philosophie und Germanistik zu studieren,
       widmete er sich der Videokunst - und versteht sich daher immer noch als
       Filmer. Mitte der Neunziger bestritt Schlingensief als Hausregisseur das
       Programm der Berliner Volksbühne. Neben "Hamlet" am Schauspielhaus Zürich
       und Jelineks "Bambiland" am Wiener Burgtheater zählt die
       Parsifal-Inszenierung bei den Wagner-Festspielen in Bayreuth vor drei
       Jahren zu seinen prominentesten Auftritten.
       
       Seit zwei Jahren wendet sich Schlingensief wieder verstärkt dem Film zu;
       die momentane Ausstellung im Haus der Kunst stellt die erste größere
       Installation dar. Die mit einer altmodischen 16-Milimeter-Bolex-Kamera
       gedrehten Streifen bilden ab, was Schlingensief selbst sah und tat, kurz
       bevor und kurz nachdem er vom Zusammenbruch seines Vaters erfuhr: Er trug
       eine schwarze Langhaarperücke nebst Augenklappe, er dirigierte ein
       Orchester und fluchte gelegentlich obszön, er besudelte sich und andere in
       einer kargen Wüstenlandschaft literweise mit Milch, er bewarf die
       Vorsitzende des Verbandes der Kleinwüchsigen mit weißem Babypuder. Er
       widmete sich seinem Tagesgeschäft. Gehetzte Regieanweisungen sind in 18
       Stunden ungeschnittenem Bildmaterial zu vernehmen, das den Kern der
       Installation bildet. Schlingensief lehnt es ab, diesen Teil durch Schnitt
       zu vollenden und ein Kapitel abzuschließen, das mit seinem Vater in einem
       letzten Zusammenhang steht. Wie schon in der Wahl des Sujets - eine Oper im
       Urwald von Manaus - scheint er gerade in dieser Sequenz den atemlosen,
       fanatischen Brian Sweeny Fitzgerald aus Werner Herzogs "Fitzcarraldo" nicht
       nur zu imitieren, sondern in ihm aufzugehen.
       
       Alle Filmsequenzen laufen in Endlosschleifen durch die ratternden
       Projektoren, nützen sich langsam ab wie eine älter werdende, erblindende
       Netzhaut, erklärt der Künstler. Wie die Erfahrung Erinnerungen überzeichnet
       - oder wie Personen, die man als Kind als riesig wahrnahm, beim späteren
       Wiedersehen plötzlich kleiner erscheinen -, kann die Bolexkamera frühere
       Aufnahmen zwar nicht löschen, aber überschreiben. Dasselbe aus einer neuen
       Perspektive sehen, Eindrücke korrigieren, ohne sie zu vernichten - wie das
       menschliche Gehirn, so die Bolex.
       
       Doch nicht alle Bretterverschläge zeigen Filme; einer ist verschlossen, der
       Inhalt nur dem Künstler bekannt. In einem anderen hängt ein expressives
       Familienporträt von 1975, das den damals 15-Jährigen mit seinen Eltern
       zeigt: Der Vater steht ein Stück höher als der Künstler selbst und dessen
       Mutter. In einem weiteren Schrein steht eine geöffnete 70er-Jahre-Kommode
       aus dunklem Holz mit eckigen Messingbeschlägen.Im obersten Fach liegt vor
       einem Chaos aus Filmrollen und Ordnern eine kleine,
       verkrumpelteSchwarzweißfotografie. Sie zeigt einen blutjungen, bildschönen
       Schlingensief im Profil, hochkonzentriert durch eine Bolex blickend, den
       ersten Bartflaum auf der Oberlippe. Im Zusammenfügen der einzelnen
       Ausstellungselemente vervollständigt Schlingensief seine Auseinandersetzung
       mit der Überlagerung von Vergangenheit und Gegenwart.
       
       Schlingensiefs Neigung zur Selbstdarstellung verliert sich auf glückliche
       Weise in der großen Intimität, die diese Ausstellung so glänzen lässt. Und
       selbst, wer bislang nur neidvoll Skandale und Skandälchen, Krankheitsbilder
       und nackte Popöchen aufzählen konnte, die der nicht immer unumstrittene
       Schlingensief zur Komplettierung seines Lebenswerkes aufzutreiben wusste,
       wird sein Urteil nun zumindest ergänzen müssen.
       
       Schwer ist die bestürzende Offenheit zu ertragen, mit der der
       Frontalkünstler dem Vergehen begegnet. Nicht fatalistisch oder tobend,
       sondern einfühlsam und leise. Nicht gewöhnlich und exaltiert, sondern
       bedrückend todtraurig. In Katakomben unter kitschigen Styroporgötzen
       unternimmt er den hilflosen Versuch, den absurdesten Moment des Lebens zu
       verstehen: den Moment des Erlöschens, das Ende einer Existenz und, noch
       furchteinflößender, die Veränderung und das schrittweise Verblassen des
       Abbildes in der Erinnerung.
       
       20 Jun 2007
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Johanna Schmeller
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Theater
       
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