# taz.de -- Religion, Zivilisation und Moral: Vom Schaden Gottes
       
       > Viele, die sich über Kardinal Meisners Wort von der "entarteten" Kultur
       > aufgeregen, stimmen seiner Kernthese zu: dass Religion für ein sittliches
       > Zusammenleben nötig sei. Ein Widerwort
       
 (IMG) Bild: Wieviel Glauben darf denn sein?
       
       Wenn der Mensch Gott aus seiner Mitte verbannt, nehme die Kultur und damit
       die Zivilisation Schaden( 1), sagt der Kölner Katholenkalif Joachim
       Meisner. Damit formuliert er freilich nur in besonders blöder Weise, was
       der gläubige Mainstream denkt. Denn dergleichen hört man aus allen
       Kirchenecken: Wenn der Mensch keinen Gott über sich fühlt, macht er sich
       zum Maß aller Dinge. Dann "herrscht immer mehr die Willkür, verfällt der
       Mensch", wie es bei Joseph Ratzinger heißt (2).
       
       Es ist ein Gemeinplatz, dass dort, wo Gott nicht existiert, alles erlaubt
       sei, und gewiss gab es in der Geschichte Ungläubige, die sich in verrückter
       Egomanie als Herren über Leben und Tod fühlten und sich dazu berechtigt
       wähnten, Hunderttausende oder Millionen in den Tod zu schicken. Aber ebenso
       gab es etliche Gläubige, die derlei taten, weil sie glaubten, ihr Gott
       würde Mord und Totschlag von ihnen erwarten. Man braucht keinen Gott, um
       Massenmord zu begehen. Aber wenn man sich einbildet, dass Gott dies von
       einem wünscht, fällt das Massakrieren leichter.
       
       Dennoch hält sich die fixe Idee, dass gläubige Leute eher ein moralisches
       Leben führen. "Viele religiöse Menschen finden es schwer vorstellbar, wie
       jemand ohne Religion gut sein kann; mehr noch, sie können nicht glauben,
       dass er überhaupt gut sein wollen könnte", schreibt Richard Dawkins in
       seinem Buch "Der Gotteswahn", um mit dem ihm eigenen Spott hinzuzufügen:
       "Davon ist es kurioserweise nicht weit zum Hass auf die, die ihren Glauben
       nicht teilen." (3)
       
       Die Meisners dieser Welt glauben, dass sich Menschen nur moralisch
       verhalten, weil sie auf Gottes Lohn hoffen oder seinen Zorn fürchten. Aber,
       fragt Dawkins hierzu, "heißt das, wenn es Gott nicht gäbe, würden sie
       rauben, vergewaltigen, morden? Wenn diese Leute das wirklich meinen, sollte
       man ihnen aus dem Weg gehen". (4)
       
       Vielleicht sind sie auch der Ansicht, sie könnten eine moralische Person
       bleiben, ohne dass Gott sein Auge auf sie hat. Dann aber ahnen sie bereits,
       dass es keinen Zusammenhang zwischen Moral und Glaube gibt - oder
       allenfalls einen komplizierten und widersprüchlichen.
       
       Ethische Überzeugungen haben vielfältige Quellen. Ein gesundes
       Solidaritätsgefühl für unsere Mitmenschen braucht keine religiösen Wurzeln.
       Der Altruismus ist eine gute Sache, aber moralisches Handeln erfordert ihn
       nicht zwingend. Für ein gerechtes Gemeinwesen ist es möglicherweise sogar
       ein stabileres Fundament, wenn die Moral keine Selbstlosigkeit nötig hat.
       
       Wir Menschen sind soziale Wesen und wissen, dass wir in der Interaktion mit
       anderen unser Leben meistern müssen. Daraus allein folgt das Postulat: "Was
       du nicht willst, dass man dir tut, das füg auch keinem anderen zu!" Eine
       sozial gerechte Gesellschaft ist für uns alle gut. Ich habe auch einen
       Nutzen davon, wenn nicht allzu viele meiner Mitmenschen im Elend leben. In
       einer Gesellschaft, in der sich alle nur um sich, nicht aber um das
       Geschick ihrer Mitmenschen kümmern, wäre es schnell für alle ungemütlich,
       auch die "Glücklichsten" müssten in den gated communities leben, in die
       sich in manchen Ländern bereits heute die Reichen zurückziehen müssen, um
       sicher zu sein. Schon der "aufgeklärte Eigennutz", schrieb der große Denker
       Bertrand Russell, müsse zur Abschaffung der Sklaverei führen. Denn "in
       einem Staat mit zahlreichen Sklaven" seien "dauernd Sklavenaufstände zu
       befürchten". (5)
       
       All das schließt nicht aus, dass ich Mitgefühl mit der Bedrückung meines
       Nächsten habe. Kurzum: Moral gehört zur Conditio humana. Gott ist dafür
       nicht notwendig. Eher im Gegenteil. Denn die Religion ist ein gutes Mittel,
       solche moralischen Empfindungen auszuschalten. Geschichte und Gegenwart
       bieten genügend Beispiele dafür, dass normale Individuen in anderen nicht
       den Mitmenschen, sondern den Feind sahen, sobald sie von ihm durch
       religiösen Eifer getrennt waren. Natürlich braucht man nicht unbedingt
       Religion, um Kriege vom Zaun zu brechen und andere Länder zu überfallen und
       zu besetzen. Aber die Religion nützt sehr, Aggression zu wecken und zu
       erhalten.
       
       Sie ist ein gutes Mittel, den Unterdrückten zu einem moralisch
       minderwertigen Subjekt zu machen, das froh sein kann, wenn ihm die
       Zivilisation, der wahre Glauben oder was auch immer gebracht wird. Und
       Religion ist ein gutes Mittel, um dem Unterdrücker die Gewissheit zu geben,
       sein Handeln sei von Gott gerechtfertigt. Zudem wird Unrecht, das sich
       religiös begründen lässt, eher akzeptiert.
       
       Wir wissen, dass es viele Ungläubige gab, die sich an den Menschenrechten
       vergingen, aber auch sehr viele Gläubige. Und es gab viele Gläubige, die
       gegen Unrecht aufstanden, aber auch viele Ungläubige. Martin Luther King
       trat für die Nachkommen der Sklaven ein; sein Namenspatron Martin Luther
       hetzte gegen die Juden und segnete die Obrigkeit, die während der
       Bauernaufstände die "mörderischen Rotten" der Freiheitskämpfer erschlagen
       ließ. Franjo Tudjman, der kroatische Staatspräsident, war ein gläubiger
       Katholik, General Radko Mladic, der Führer der serbischen Armee, ein
       orthodoxer Christ. Beide waren große Anhänger der "ethnischen Säuberung"
       und des genozidalen Massenmords, der ohne die Versessenheit auf
       ethno-religiöse Identitäten gar nicht hätte funktionieren können. Denn nur
       anhand der Kriterien "katholisch", "orthodox" und "muslimisch" waren die
       Südslawen überhaupt auseinanderzuhalten. Oskar Romero, der Erzbischof von
       San Salvador, stellte sich vor dreißig Jahren in El Salvador mutig auf die
       Seite des unterdrückten Volkes und wurde deshalb von faschistischen
       Todesschwadronen erschossen, deren Anführer gläubige Christen wie er waren.
       
       Sieht man sich die Geschichte der meisten Freiheitsbewegungen an, waren es
       jedenfalls meist die säkularen Kräfte, die sich mit dem Unrecht der Welt
       nicht abfinden wollten, während die Gläubigen in der Mehrzahl ihr Heil im
       Gebet suchten - ganz abgesehen davon, dass sich meist eine Bibelstelle
       fand, die die Eroberung eines Landes, die Unterdrückung der Frauen oder die
       Beibehaltung der Sklaverei legitimierte. "Die Wahrscheinlichkeit, dass
       jemand, der säkular oder Freidenker war, sich gegen das Unrecht stellte,
       war extrem hoch", schreibt Christopher Hitchens in Hinblick auf den Kampf
       gegen die Sklaverei in Amerika. "Die Wahrscheinlichkeit, dass sich jemand
       aufgrund seiner religiösen Überzeugungen gegen die Sklaverei und Rassismus
       stellte, war ziemlich klein. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass jemand
       aufgrund seines Glaubens die Sklaverei und den Rassismus verteidigte, war
       statistisch extrem hoch, und das war auch der Grund dafür, dass der Sieg
       über das Unrecht so lange auf sich warten ließ." (6)
       
       Wir alle, ob gläubig oder nicht, wissen, dass wir uns gut fühlen, wenn wir
       etwas getan haben, was vor unseren Kriterien einer moralischen
       Lebensführung zu bestehen vermag, und dass wir uns schlecht fühlen, wenn
       wir etwas getan haben, was unseren moralischen Vorstellungen widerspricht.
       Wir haben in einem solchen Fall Gewissensbisse. Da brauchen wir keinen Gott
       über uns.
       
       Im Gegenteil: Meist sind es der Welt zugewandte Menschen, die Unrecht als
       besonders unerträglich empfinden, während ein guter Gläubiger oftmals die
       fixe Idee in seinem Kopf hat, dass die rein äußerlichen Unterschiede auf
       Erden keine Rolle spielen, da alles Irdische ohnehin eitel sei.
       
       Sklave oder Bürger? Alles unwichtig. Ja mehr noch, oftmals wurde
       unterstellt, "der gute Sklave, der sich in seine Sklavenrolle fügt" (Michel
       Onfray), tut ein gottgefälliges Werk, weil er wie ein guter Diener seines
       Herrn auf dem Platz bleibt, auf den ihn Gott auf Erden gestellt hat - eine
       "Demutshaltung", mit der er sich "einen Platz im Paradies" verdient. (7)
       "Ein jeder bleibe in der Berufung, in der er berufen wurde", heißt es in
       der Luther-Bibel (1. Kor 7,20), woher bezeichnenderweise auch das deutsche
       Wort "Beruf" stammt. Jeder soll bleiben, was er ist, denn er ist von Gott
       dorthin "berufen", und der Knecht mag zwar irdisch unfrei sein, aber wenn
       er den Herrn bei sich weiß, dann ist er "ein Freigelassener des Herrn" (1.
       Kor 7,22). Toller Ratschlag!
       
       Gewiss sind die Heiligen Schriften der großen monotheistischen Religionen
       auch so etwas wie das Inhaltsverzeichnis der moralischen Imperative der
       Menschheit. Das Tötungsverbot, die Nächstenliebe, das Mitgefühl für den
       Mitbürger oder die Aufrichtigkeit sind für das Funktionieren eines jeden
       Gemeinwesens zentrale Werte, sodass es nicht wundert, dass sie praktisch in
       allen Moralkatalogen vorkommen, egal ob religiös oder nicht. Und selbst
       wenn das, was man "unsere Werte" nennt, historisch gesehen auch religiösen
       Ursprungs wäre, spricht nichts dafür, dass die Bindekraft moralischer
       Normen abnimmt, wenn der Mensch Gottes Videoüberwachung nicht mehr über
       sich spürt. Besonders religiöse Gesellschaften sind keineswegs moralischer
       als eher nicht religiöse Gesellschaften.
       
       Es ist ein Irrglaube, dass die Religion wenn schon nicht wahr, dann
       nützlich sei, weil sie die Moral stärke. Solange auch Nichtgläubige dem
       etwas abgewinnen können, haben die Meisners leichtes Spiel.
       
       22 Sep 2007
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Robert Misik
       
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 (DIR) „Islamischer Staat“ (IS)
       
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